gleich hochdeutschem „Wie leise, wie lose bewegte er den Thürring“ (als er nämlich in der Nacht vor die Thür der Geliebten kömmt), habe vorsagen können. Dieses Gespräch kann aber frühestens rund anderthalb Jahrzehnte nach der 1773 gedichteten und in der Göttingischen Poetischen Blumenlese auf das Jahr 1774 gedruckten Leonore stattgefunden haben. Unmittelbar aus der Entstehungszeit der Ballade berichtete zuerst Althof in „Einigen Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen Gottfried August Bürgers“ vor dem vierten Bande der von Reinhard herausgegebenen Vermischten Schriften Bürgers, 1802 S. 37.
Althof beruft sich sowohl im Allgemeinen, als bei seinen Bemerkungen über die Leonore (S. 38) ausdrücklich auf Boie als auf denjenigen Freund, dessen Stimme in dieser Angelegenheit desto sicherer entscheide, weil er der einzige Vertraute des Dichters bei der strophenweise vorrückenden Arbeit gewesen sei; bei Strodtmann 4, 262 findet sich auch die briefliche Beglaubigung dafür. Einst habe Bürger, wie er mehr als einmal erzählt, im Mondscheine ein Bauernmädchen singen hören:
Der Mond der scheint so helle,
Die Todten reiten so schnelle:
Feinsliebchen, graut dir nicht?
Danach hätte Bürgers Einbildungskraft schnell einige Strophen entworfen. Boie, dem er sie mitgeteilt, sei so bezaubert gewesen, dass er ihm keine Ruhe liess, bis das Stück fertig war. Die Unterlage eines fremden Originals lehnt Althof durch Boie ab. Vielmehr habe sich Bürger allenthalben, doch immer vergebens, nach dem alten Liede erkundigt, von dem jene in mehreren Gegenden Deutschlands noch im Munde des Volkes lebenden Laute ein Teil sein müssten.
Dies war der Stand der Dinge damals, als für das Wunderhorn gesammelt wurde. Wieland, Schlegel und Althof-Boie beriefen sich sämtlich auf mündliche Mitteilungen Bürgers. Was sie aber Thatsächliches anzuführen hatten, wich von einander ab; und durch zwei bekannt gewordene briefliche Äusserungen Althofs zu Friedrich Nicolai 1797 wird die Unbestimmtheit eher noch erhöht als vermindert. Die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines deutschen Volksliedes war ausgesprochen. Jetzt erhielt Brentano 1806 oder 1807 in Heidelberg aus dem liederreichen Odenwald von Frau Auguste Pattberg ein Lied ähnlichen, nicht gleichen, Inhalts und Wortklangs wie die Leonore oder die mit ihr in Verbindung gebrachten Volksliedfragmente. Das war ein ungewöhnliches Ereignis in der sonst so einförmigen Sammelarbeit für das Wunderhorn. Es wurde im Freundeskreise angelegentlich erörtert.
Reinhold Steig: Frau Auguste Pattberg geb. von Kettner. Koester, Heidelberg 1896, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Frau_Auguste_Pattberg.djvu/27&oldid=- (Version vom 1.8.2018)