Der Schneider wollte nun den Platz etwas ansehen, ging in den Busch und fand darinnen einen Ring. Auf dem Ringe stand: Wer den Ring an den rechten Arm macht, kann alles heben. Den Ring steckte der Schneider an, ohne seiner Mutter etwas davon zu sagen. Von dem Platze führte ein Pfad bergan, den wollten sie gehen und sehen, wohin sie kämen. Der Schneider verlangte jetzt auch zu wissen, ob der Ring Kraft habe und sagte zu seiner Mutter, er wolle sie das Berglein hinauftragen. Sie sagte, sie könne auch gehen, aber er trug sie doch hinauf. Das kam ihm so leicht an, gerade, als wenn er eine Feder auf dem Arme hätte. Oben gingen sie den Pfad fort und kamen an eine Riesenburg. Darin waren zweihundert Riesen. Als sie in die Burg traten, hing ein Säbel da, auf dem stand: Wer diesen Säbel heben kann, kann alles tot schlagen. Der Schneider holte den Säbel herunter und schlug alle Riesen tot bis auf einen einzigen, den alten.
Der Schneider und seine Mutter blieben in der Riesenburg. Der Schneider ging ständig auf die Jagd und während dem wurde der Riese und seine Mutter miteinander bekannt. Darum hätten sie den Schneider gern weg haben mögen. Als der Schneider wieder einmal von der Jagd heimkam, stellte sich seine Mutter krank. Er fragte sie: „Mutter, was fehlt denn Euch?“ Die Mutter sagte: „Ich bin krank“. Jetzt fragte er den Riesen: „Ries, hast du meiner Mutter was getan?“ Dieser antwortete: „Nein“. Jetzt sprach die Mutter: „Wenn ich halt Aepfel hätte, würde ich vielleicht wieder gesund“. Der Schneider fragte den Riesen, wo es Aepfel gäbe. Da sagte dieser: „Zwei Stunden von hier sind vierhundert Riesen; die sind aber nocheinmal so stark als wir waren; die haben auch Aepfel“. Der Riese mußte ihm den Weg zeigen, der hinführte. Der Schneider nahm seinen Säbel mit und ging gegen die Riesenburg zu. Als er hinein kam, hieb er die Riesen zusammen. In der Burg stand ein Baum voller Aepfel. Auch eine Königstochter war da, die von den Riesen gefangen genommen worden war. Der Schneider riß den Baum aus, legte ihn auf die Achsel und setzte das Mädchen oben darauf.
Daheim gab der alte Riese acht, ob der Schneider komme oder nicht. Er sah zum Fenster hinaus, und als er den Schneider erblickte, sagte er zu dessen Mutter: „Er kommt wahrhaftig, hat den Baum auf der Achsel und noch oben darauf ein Mädchen sitzen.“ Als der Schneider hinein kam, sagte er zu seiner Mutter: „Da, Mutter, habe ich Aepfel, eßt Euch gesund daran!“ Er sagte auch, daß sie dem Mädchen ja nichts zu leid tun dürften, das er mitgebracht habe. Als er das Mädchen eine Zeit lang bei sich hatte, bis es wieder bei Kräften und gesund war, nahm er es mit hinaus auf die Jagd und führte es auf seinen Heimweg, den es einst hergekommen war. Die Königstochter gab ihm die besten Worte, er solle mit ihr gehen, sie wolle ihn heiraten, weil er ihr Retter gewesen sei und sie befreit habe. Er sagte aber bloß: „Einmal später“. Als der Schneider heimkam, stellte sich seine Mutter wieder krank. Er fragte, was ihr fehle. Sie antwortete, wenn sie Milch hätte, würde sie wieder gesund. Er fragte nun den Riesen, wo es Milch gäbe. Der sagte:
Karl Spiegel: Märchen aus Bayern. Selbstverlag des Vereins für bayrische Volkskunde und Mundartforschung, Würzburg 1914, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Spiegel_Maerchen_aus_Bayern.djvu/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)