die furchtbare Litanei der Leiden, der Erniedrigung und der Ungerechtigkeit, das ganze Gehenna der Enterbten. Er lauschte wie auf eine phantastische Erzählung aus Tausendundeiner Nacht, daß ihm die Haare zu Berge standen und seine Seele sich krümmte in bitterer, brennender Scham. Einige Male wollte er schon fliehen, doch konnte er, von Staunen und Grauen gebannt, sich nicht von der Stelle rühren. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er aus den tiefsten Grund der Wirklichkeit geschaut, auf den tiefsten Grund menschlichen Elends.
„Furchtbar! Furchtbar!“ flüsterte er und bemerkte, als er sich von ihren geröteten Augen abwendete, ein kleines Mädchen, das unter dem Tische zusammengekauert saß und alle Augenblicke eine Puppe, die sie sich aus Lumpen gemacht hatte, mit ihren Fäustchen bearbeitete und ihr drohend etwas zuflüsterte.
„Was macht sie denn dort?“
„Sie müssen wissen, Herr, sie ist etwas schwach im Kopf,“ stotterte die Alte.
„Ist das Ihre Tochter?“
„Nein, nein!“ Sie schaute sich mißtrauisch um und flüsterte gleichsam, als wäre es ein Geheimnis: „Sie wissen, wie der Pogrom in Kischineg war, hat man ihren Papa totgeschlagen, ihre Mama ermordet und ihre ganze Familie, man hat ihr das Gesicht zerschlagen, alle Waren geraubt, und noch das Haus hat man angezündet. Wie das war, das kann man nicht einmal erzählen. Man fand sie unter den Leichen, kaum noch atmend. So ist sie Waise geworden, wir haben sie mitgenommen. Aber seit der Zeit hat sie
Władysław Reymont: Der Vampir. Albert Langen, München 1914, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reymont_-_Der_Vampir.djvu/199&oldid=- (Version vom 1.8.2018)