„Dann bat sie, man solle sich nicht von den Plätzen rühren; die Lichter erloschen von selbst, und sie ging hinaus.“
„Nein und tausendmal nein, das ist unmöglich. Das ist ein Märchen oder Wahn. Wie wäre es denn möglich? Ich begegnete ihr im Flur, wie sie von der anderen Seite herkam, und sie soll gleichzeitig unter Euch gewesen sein, – zu derselben Zeit hier sowohl wie dort?! Ich könnte doch meinen Kopf dafür geben, daß ich ihr begegnet bin, daß ich hinter ihr herging, bis hinunter zum Portier; also war es nur Halluzination, Einbildung, daß Ihr sie gesehen haben wollt.“
„Es war eine ebenso wirkliche Tatsache wie deine Begegnung mit ihr, – ebenso, wie du sie gesehen hast, war sie zugleich unter uns.“
„Dann hat sie sich also in zwei miteinander völlig identische Wesen gespalten? Mache dich nicht lustig über mich, versuche mich nicht zu überzeugen, – dies würde ja allem widersprechen, was wir wissen, würde unserem Verstand Hohn sprechen,“ rief Zenon gereizt.
„Wem widerspricht es? Unserem Wissen, unserem Verstand? Was wissen wir denn? Gar nichts! Wir stecken tief bis an den Hals in dummen, nichts erklärenden Tatsachen, an die wir uns festklammern, wie an die Brüstung über einem Abgrunde; wir wagen es nicht, uns von der Stelle zu rühren, ja nicht einmal zu denken, daß man sich in diesen Abgrund stürzen könnte, ohne verloren zu sein, und daß man gerade dort diese einzige Wahrheit, die eigene Seele, finden könnte.“
Władysław Reymont: Der Vampir. Albert Langen, München 1914, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reymont_-_Der_Vampir.djvu/095&oldid=- (Version vom 1.8.2018)