Gott erhörte ihr Flehen. Er sandte einen Wind, der wehte einen Tag und eine Nacht. Er entführte die Schiffe aus der Gegend der heidnischen Lande und brachte sie glücklich und wohlbehalten nach Köln. Daselbst war Ursula bereits sicher vor der erzwungenen Hochzeit. Errettet wie einst die Juden vor Pharaos Heere stimmten die elftausend Jungfrauen das himmlische Brautlied an. Jubelnd stieg es zum Himmel und zu den Ohren Zebaoths auf.
Allein noch weiter sollten sie entfliehen von den Grenzen der Lande, da ein heidnisches Volk die Ursula als Gemahlin für den Königssohn begehrte. In der Nacht aber, da sie zu Köln schliefen, da erschien der Ursula ein Mann im Traume mit englischer Klarheit. Dessen erschrak sie, aber der Mann tröstete sie und sprach: „Wisse, meine Tochter, Du sollst mit Deinem Heere gen Rom ziehen, allda beten und wieder nach Köln kommen in Frieden. Euer keiner soll vorher umkommen. Denn in Köln ist Euch Ruhe bestimmt in Ewigkeit. Ihr habet einen guten Kampf gekämpfet, darum sollet Ihr zu Köln ablegen die Last Euerer Leiber und mit der Glorie der himmlischen Märtyrer eingehen in das himmlische Brautgemach.“
So sprach der Mann und verschwand. Im Morgengrauen berief die heilige Ursula die elftausend Jungfrauen zur Versammlung und erzählte ihnen Alles. Sie aber jubelten, daß sie gewürdigt seien, für Christi Namen Schmach zu leiden, opferten Dankopfer, zogen stromauf nach Basel, banden ihre Schiffe daselbst an und kletterten zu Fuße über die Alpenpässe hinweg als Pilgerinnen nach Rom.
Daselbst besuchten sie alle Tempel der Heiligen und durchwachten in ihnen betend die Nächte. Darauf zogen sie nach Basel zurück auf derselben Straße, bestiegen ihre Schiffe von neuem und kamen glücklich wieder bis Köln.
Vor dieser Stadt aber lagen gerade jetzt die Hunnen. Dem Heidenkönige im Norden war Ursula entflohen, nun sollte sie dem großen Könige der Heiden im Süden in die Hände fallen.
Den Jungfrauen war die Milde der Bewohner von Köln schon vorher kund geworden. Arglos stiegen sie aus und wollten zur Stadt gehen. Da fiel plötzlich das Volk der Hunnen über sie her, wie Wölfe in Schafhürden einbrechen, und vertilgten eine unabsehbare Menge mit unmenschlicher
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/214&oldid=- (Version vom 1.8.2018)