Bei der Sage von den Nibelungen müssen wir längere Zeit verweilen. Man versteht unter den Nibelungen immer diejenigen, welche sich im Besitze des Nibelungenschatzes befinden. Nachdem ihn Siegfried dem Drachen und dem Zwerge Nibelung abgewonnen hat, ist dieser der eigentliche Nibelungenheld. Der höchste Glanz der Schönheit, der Jugend und der Kraft ist ihm eigen und geht sogar dauernd auf seine schon vorher hochgefeierte Gemahlin Kriemhilde über. Brunhilde dagegen hat bis zu ihrer Besiegung durch Siegfried selbst einen geheimnisvollen Anteil an dem Zauber der Nibelungen. Dieser Zauber weicht aber mehr und mehr von ihr, nachdem sie Gunther übergeben ist. Nach Siegfrieds Ermordung verschwindet Brunhilde mehr aus dem Heldengedicht der Nibelungen. Aber auch Kriemhild’s Charakter verdunkelt sich allmählig nach Siegfried’s Tode. Dagegen heben sich mehr und mehr die Burgunden und besonders Hagen zu großartigen und selbst etwas edleren Gestalten, nachdem sie durch Siegfried’s Tod in den Besitz des Schatzes der Nibelungen gekommen sind. Nach Siegfried’s Tode heißen sie daher eben so gut die Nibelungen, als Siegfried selbst.
Trotz aller Hoheit, allen Edelmutes und aller Liebenswürdigkeit wird Siegfried wegen eines nur geringen Vergehens, des gegen Brunhilde ausgeübten Betruges, von einem unerbittlichen Geschicke ereilt. Aber wie sehr wir auch Hagen’s verruchte Handlung verabscheuen, so müssen wir doch von Anfang an gestehen, daß derselben kein Eigennutz, sondern nur
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/12&oldid=- (Version vom 1.8.2018)