Beschaffenheit nach noch ganz die Farbe des Sinnlichen an sich trägt, die aber eine bereits geformte und somit eine geistig beherrschte Sinnlichkeit darstellt. Hier handelt es sich nicht um ein einfach gegebenes und vorgefundenes Sinnliches, sondern um ein System sinnlicher Mannigfaltigkeiten, die in irgendeiner Form freien Bildens erschaffen werden.
So zeigt etwa der Prozeß der Sprachbildung, wie das Chaos der unmittelbaren Eindrücke sich für uns erst dadurch lichtet und gliedert, daß wir es „benennen“ und es dadurch mit der Funktion des sprachlichen Denkens und des sprachlichen Ausdrucks durchdringen. In dieser neuen Welt der Sprachzeichen gewinnt auch die Welt der Eindrücke selbst einen ganz neuen „Bestand“, weil eine neue geistige Artikulation. Die Unterscheidung und Sonderung, die Fixierung gewisser Inhaltsmomente durch den Sprachlaut bezeichnet an ihnen nicht nur, sondern verleiht ihnen geradezu eine bestimmte gedankliche Qualität, kraft deren sie nun über die bloße Unmittelbarkeit der sogen. sinnlichen Qualitäten erhoben sind. So wird die Sprache zu einem der geistigen Grundmittel, vermöge dessen sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfindungswelt zur Welt der Anschauung und Vorstellung vollzieht. Sie schließt im Keime bereits jene intellektuelle Arbeit in sich, die sich weiterhin in der Bildung des Begriffs, als wissenschaftlichen Begriffs, als bestimmter logischer Formeinheit äußert. Hier liegt der erste Anfang jener allgemeinsten Funktion des Trennens und Verknüpfens, die ihren höchsten bewußten Ausdruck in den Analysen und Synthesen des wissenschaftlichen Denkens findet. Und neben der Welt der Sprach- und Begriffszeichen steht nun, mit ihr unvergleichbar und ihr dennoch dem geistigen Ursprung nach verwandt, jene Gestaltenwelt, die der Mythos oder die Kunst erschafft. Denn auch die mythische Phantasie ist, so stark sie im Sinnlichen wurzelt, doch über die bloße Passivität des Sinnlichen hinaus. Mißt man sie an den gewöhnlichen empirischen Maßstäben, wie sie die sinnliche Erfahrung uns darbietet, so müssen ihre Gebilde als schlechthin „unwirklich“ erscheinen, aber gerade in dieser Unwirklichkeit bekundet sich die Spontaneität und die innere Freiheit der mythischen Funktion. Und diese Freiheit fällt keineswegs mit einer völlig gesetzlosen Willkür zusammen. Die Welt des Mythos ist kein bloßes Gebilde der Laune oder des Zufalls, sondern sie hat ihre eigenen Fundamentalgesetze des Bildens, die durch alle ihre besonderen Äußerungen hindurchwirken. Im Gebiet der künstlerischen Anschauung wird es sodann vollends deutlich, daß alle Auffassung einer ästhetischen Form am Sinnlichen nur dadurch möglich wird, daß wir selbst die Grundelemente der Form bildend erzeugen. Alles Verständnis
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/36&oldid=- (Version vom 14.9.2022)