Wortklassen, die unsere grammatische Analyse zu unterscheiden pflegt, daß das Substantiv, das Adjektiv, das Pronomen, das Verbum, nicht von Anfang an vorhanden sind und gleich festen substantiellen Einheiten gegeneinander wirken, sondern daß sie sich gleichsam gegenseitig hervortreiben und gegeneinander abgrenzen. Die Bezeichnung entwickelt sich nicht am fertigen Gegenstand, sondern der Fortschritt des Zeichens und die dadurch erreichte immer schärfere „Distinktion“ der Bewußtseinsinhalte ist es, wodurch sich für uns immer klarere Umrisse der Welt, als eines Inbegriffs von „Gegenständen“ und „Eigenschaften“, von „Veränderungen“ und „Tätigkeiten“, von „Personen“ und „Sachen“, von örtlichen und zeitlichen Beziehungen ergibt.
Ist somit der Weg, den die Sprache geht, der Weg zur Bestimmung, so ist zu erwarten, daß diese sich allmählich und stetig aus einem Stadium relativer Unbestimmtheit herausarbeiten und gestalten wird. Die Sprachgeschichte bestätigt diese Vermutung durchaus: denn sie zeigt, daß wir, je weiter wir in der Entwicklung der Sprache zurückgehen können, mehr und mehr zu einer Phase hingeführt werden, in der die Redeteile, die wir in den ausgebildeten Sprachen unterscheiden, sich weder formell noch inhaltlich voneinander abgesondert haben. Ein und dasselbe Wort kann hier grammatisch sehr verschiedene Funktionen erfüllen, kann je nach den besonderen Bedingungen, unter denen es auftritt, als Präposition oder als selbständiges Nomen, als Verbum oder als Substantivum gebraucht werden. Insbesondere bildet die Indifferenz von Nomen und Verbum die durchgehende Regel, die den Bau der Mehrzahl der Sprachen bestimmt. Man hat gelegentlich gesagt, daß zwar die ganze Sprache in den beiden Kategorien des Nomens und des Verbums aufgehe, daß aber andererseits die wenigsten Sprachen ein Verbum in unserem Sinne kennen. Zu einer wirklich scharfen Scheidung beider Formklassen scheinen fast ausschließlich die Sprachen des indogermanischen und des semitischen Kreises gelangt zu sein – und selbst in ihnen finden sich in der Satzgestaltung noch fließende Übergänge zwischen der Form der Nominal- und der Verbalsätze[1]. Humboldt bezeichnet es als ein Charakteristikum des malayischen Sprachstammes, daß in ihm die Grenzen zwischen dem nominalen
- ↑ [1] Vgl. z. B. Nöldeke, Syrische Grammat., S. 215: „Der Nominalsatz, d. h. der Satz, welcher ein Subst. Adj. oder eine adverbiale Bestimmung zum Prädikat hat, unterscheidet sich im Syrischen vom Verbalsatz nicht allzu scharf. Das sehr viel als Prädikat verwandte, zur reinen Verbalform werdende Partizipium, das doch seine nominale Herkunft nicht verleugnet …, bezeichnet Übergänge vom Nominalsatz zum Verbalsatz. Auch der innere Bau der Nominal- und Verbalsätze ist im Syrischen nicht sehr verschieden.“
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/249&oldid=- (Version vom 19.1.2023)