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Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/022

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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

alles Fleisches einen Mann für die Gemeinde, zu ihrer Hütung und Leitung einen Hirten, der sie tadellos führe, damit das Volk nicht verkümmere wie eine auf dem Berge zerstreute[1] Herde, die keinen Hirten hat“ (4 Mos. 27,16.17). 59 Wer unter den damals Lebenden wäre wohl nicht verwundert gewesen, wenn er dieses Gebet gehört hätte? „Was sagst du, o Herr?“ würde er sprechen; „hast du nicht eheliche Söhne, hast du nicht Bruderssöhne? Hinterlass doch die Herrschaft deinen Söhnen, diese sind ja naturgemäss die ersten Erben, und wenn du sie ausschliessen willst, dann wenigstens den Bruderssöhnen. 60 Wenn du aber auch diese für ungeeignet hältst und das Volk dir höher steht als die nächsten Verwandten und Angehörigen, so hast du doch einen untadligen Freund, der dir Allweisem den Beweis vollkommener Tüchtigkeit geliefert hat. Warum also willst du, wenn es bei der Wahl nicht auf Abkunft, sondern auf Tüchtigkeit ankommen soll, nicht (selbst) diesen Freund erwählen“? 61 Darauf würde er erwidern: „In allen Dingen geziemt es sich Gott zum Richter zu wählen, ganz besonders aber bei wichtigen Dingen, deren gute oder schlechte Ausführung viele entweder zum Glücke führt oder umgekehrt zum Unglück. Es gibt aber nichts Wichtigeres als ein Herrscheramt, dem die Angelegenheiten von Städten und Ländern in Krieg und Frieden anvertraut sind; denn wie zu einer guten Seefahrt ein tüchtiger, verständiger und erfahrener Steuermann nötig ist, ebenso bedarf es überall zur guten Leitung von Untergebenen eines weisen Führers. 62 Ueber die Weisheit aber zu urteilen, die nicht nur viel früher als ich, sondern auch früher als die ganze Welt geschaffen wurde[2], ist keinem andern erlaubt und möglich


  1. Ich lese statt σποράδην, wofür die beste Handschrift ἐπ’ ὄρους bietet, σπορὰς ἐπ’ ὄρους. Diese von Philo zu dem sonst wörtlichen Zitat hinzugesetzten Worte klingen an eine andere Bibelstelle an: 1 Könige 22,17 ἑώρακα τὸν πάντα Ἰσραὴλ διεσπαρμένους ἐν τοῖς ὄρεσιν ὡς ποίμνιον, ᾧ οὐκ ἔστι ποιμήν.
  2. Vgl. Sprüche Salom. 8,22 ff.: „Der Ewige schuf mich (die Weisheit) als Anfang seines Weges, als erstes seiner Werke seit der Urzeit. Von Ewigkeit her bin ich gebildet, seit dem Anfang, seit der Entstehung der Erde“ u. s. w. Weish. Salom. IX 9: „Und bei dir ist die Weisheit, die deine Werke kennt und die zugegen war, als du die Welt schufest“.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/022&oldid=- (Version vom 31.10.2017)