Philon: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel | |
|
das Echte, der falsche Schein, der seiner Natur nach trügt und blendende Vorstellungen von den Dingen täuschend vorspiegelt, die Wahrheit. 4 In den Städten entsteht denn auch das schädlichste aller Uebel, der Dünkel, den manche bewundern und anbeten, indem sie eitlem Wahne huldigen mit goldenen Kränzen und Prachtgewändern und einer Menge von Dienern und Wagen, auf denen diese sogenannten Glücklichen hoch oben sitzend daherfahren und an die sie bald Maultiere oder Pferde bald auch Menschen selbst vorspannen, die die Sänfte schwer auf dem Nacken tragen, im Geiste noch mehr als am Leibe von dem Uebermass schimpflicher Behandlung niedergedrückt. 5 (2.) Der Eigendünkel ist auch der Vater vieler anderen Laster, der Prahlerei, des Hochmuts, der Unbilligkeit. Diese wieder sind der Anfang von Kämpfen nach aussen wie nach innen, denn nichts bleibt von ihnen unbehelligt, weder im öffentlichen noch im Privatleben, weder zu Lande noch zu Wasser. 6 Doch was hat man nötig an die Unbilden, die sich Menschen einander zufügen, zu erinnern? Ist doch infolge des Dünkels selbst das Göttliche der Vernachlässigung anheimgefallen, wenn man auch meint, dass man ihm die höchste Ehre erweist. Was für eine Ehre kann das sein, wenn die Wahrheit nicht dabei ist, sie, die einen zu ehrenden Namen wie einen zu ehrenden Inhalt hat, während umgekehrt die Lüge ihrer Natur nach verächtlich ist? 7 Die Vernachlässigung des Göttlichen liegt für den schärfer Blickenden auf der Hand. Macht man sich doch mit Hilfe der Malerei und der Bildhauerkunst unzählige Gebilde und umgibt sie dann mit Tempeln und Heiligtümern, errichtet Altäre und erweist den Bildsäulen, den gehauenen und aus Holz geschnitzten und was dergleichen Gebilde mehr sind, olympische und göttliche Ehren, wie sie nur der Gottheit zukommen, und sind doch alle nur leblose Dinge. 8 Passend vergleicht die heilige Schrift sie (die Götzenverehrer) mit Kindern der Unzucht[1]; denn wie diese jeden, den die Mutter zum Liebhaber gehabt, ihren Vater nennen
- ↑ Philo deutet 5 Mos. 23,3 (LXX οὐκ εἰσελεύσεται ἐκ πόρνης εἰς ἐκκλησίαν κυρίου) allegorisch auf Anhänger der Vielgötterei. Vgl. De confus. lingu. § 144. De migr. Abrah. § 69. De spec. leg. I § 332.
: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel. Breslau: H. & M. Marcus, 1909, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonDecalGermanTreitel.djvu/006&oldid=- (Version vom 9.12.2016)