Stoff mit jugendlicher Lebhaftigkeit austauschten. Aber bald machte ein Polizeiverbot diesem politischen Vergnügen ein Ende, da es bei dem Eifer und der Zungenfertigkeit der meist russischen und jüdischen Sozialdemokraten schließlich mehr der Förderung als der beabsichtigten Bekämpfung des Sozialismus diente. Die Vertiefung in den Gegenstand der Preisaufgabe brachte für einen politisch noch nicht ausgereiften jungen Mann gewiß die Gefahr mit sich, daß er für die eine oder die andere Richtung leidenschaftlich Partei ergreifen würde. Während die Undurchführbarkeit der Gedanken Fichtes auf der Hand lag, überzeugte ich mich, daß der neuzeitliche Sozialismus neben vielen Ausgeburten des Klassenhasses auch manche berechtigte Forderungen aufstellte und daß die Besitzenden durch völlig ablehnende Haltung ihnen gegenüber die vorhandenen Gegensätze nur verschlimmern würden. Ich habe demgemäß an einer vermittelnden Richtung auch später festgehalten, als ich aus den Stürmen demokratischer Ansichten in den ruhigen Hafen gemäßigt liberaler Gesinnung eingelaufen war. Meine Arbeit betonte am Schlusse die Überzeugung von der Wahrheit des Fichteschen Ausspruchs, daß nur auf der zweckmäßigen Wechselwirkung aller Stände die wahre Verbesserung des Menschengeschlechts beruhe. Ich reichte die Abhandlung unter dem Kennwort multa petentibus desunt multa ein und erhielt den Preis von 50 Talern zugesprochen, während ein Student der Rechte mit einem Nebenpreise von 40 Talern bedacht und eine dritte Arbeit für ungenügend erklärt wurde.
Dieser Erfolg war gewiß eine Ermunterung meiner politischen Neigungen, aber bei der Auswahl der Vorlesungen blieb doch die Erwägung maßgebend, daß ich mich möglicherweise würde auf den Lehrerberuf einrichten müssen. Die philologischen Fächer standen daher zunächst im Vordergrund. Griechische Grammatik und Literaturgeschichte hörte ich bei dem gründlichen und klaren, aber schulmeisterlich langweiligen
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/69&oldid=- (Version vom 4.6.2024)