Sachsens hochgelobte Stadt. Mit ihren malerischen Straßen und der noch fast unberührten mittelalterlichen Befestigung machte sie auf mich einen überwältigenden Eindruck, vertieft durch den Besuch des an deutschen Altertümern überreichen Germanischen Museums. Hier gewann das, was ich von deutscher Geschichte wußte, Blut und Leben, und die Bilder, die mir bald nachher im Universitätsunterricht von deutschem Städtewesen vorgeführt wurden, fanden auf diesem Hintergrunde erst das richtige Verständnis. Ein Stündchen im „Bratwurstglöcklein“ brachte unserem Unternehmen das Abschiedsgeläut. Am 30. Oktober trafen wir wohlbehalten wieder in Meißen ein.
Das Erlebnis hatte für mich ungefähr die gleiche Bedeutung, wie wenn in früheren Jahrhunderten hochgeborene Jünglinge nach vollendeter Ausbildung auf die große „Kavaliertour“ gingen, nur daß ich nicht mit einem gelehrten Hofmeister, sondern einem einfachen Töpfermeister durch die Länder zog und im befreienden Gefühle meines Niedriggeborenseins mich damit begnügen durfte, mir die beengenden Mauern der Fürstenschlösser von außen anzusehen. Was ich von der schönen Reise behielt, war nicht bloß die angenehme Erinnerung an Genüsse von Auge, Ohr und Zunge, sondern auch eine wertvolle Erweiterung meines Gesichtskreises, lebendige Anschauung von fremden Ländern und ein erhebender Eindruck von alter deutscher Städtekultur. So ging ich nun als weitgereister Mann, noch dazu ausgestattet mit einer ansehnlichen Studienbeihilfe meines Schwagers, auf die Universität nach Leipzig, damals die größte und bedeutendste unter ihren deutschen Schwestern.
Nun sei gegrüßt, du freie Wissenschaft! Lichtspenderin im Dunkel der Vorzeit, Wahrheitskünderin vom Leben und
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/65&oldid=- (Version vom 29.5.2024)