uns von Wien auf genußreicher, prächtige Gebirgsbilder bietender Fahrt über den Semmering nach Graz. Der Aufenthalt in der steirischen Hauptstadt war ein sonniger Tag ungetrübten Genießens. Die Spaziergänge im schönen Stadtpark gewährten Erholung nach dem Lärm des großstädtischen Getriebes und dem Gerassel der Schnellzüge, und vom Schloßberge bot sich eine entzückende Rundsicht auf eine Landschaft, wie ich sie in solcher Großartigkeit bis dahin nicht gekannt. Abends sahen wir im Stadttheater eine Operette „Karneval in Rom“; sie brachte einen hübschen Maskenzug auf die Bühne, mit komischen Tiergestalten, die nach dem Ende hin immer kleiner wurden, als Schlußstück ein Kücken, das die Eierschalen noch mitschleppte. Das belustigte meinen in Wien mißtrauisch gewordenen Schwager so, daß er sich mit meinen Theaterveranstaltungen völlig aussöhnte. Auf der Weiterfahrt über Marburg, Villach und Franzensfeste, verließ uns das Wetterglück, in Tyrol regnete es in Strömen und auf dem Brenner sahen wir uns in dichtes Schneegestöber eingehüllt. So entschlossen wir uns mit Bedauern, den Besuch von Innsbruck, wo ich meine Kindheitserinnerungen an Andreas Hofer aufzufrischen gedachte, fallen zu lassen, und fuhren bis München durch. Hier gab es zwei Tage lang wieder tüchtige Arbeit, um auch nur die wichtigsten Sehenswürdigkeiten flüchtig kennenzulernen: prächtige öffentliche Gebäude, stimmungsvolle Kirchen, Museen mit unermeßlichen Kunstschätzen, im Hoftheater eine glänzende Aufführung der Hugenotten und nicht zuletzt das Hofbräuhaus, wo wir aus innerster feuchtfröhlicher Überzeugung das Bundesverhältnis mit Bayern fester knüpften. Nur wunderten wir uns ein wenig über die in dieser königlichen Bierhöhle herrschende eigenartige Sauberkeit, vermieden aber uns an Ort und Stelle darüber auszusprechen, weil wir unsere heilen Knochen noch für die Heimfahrt brauchten. Dann kam als prachtvolles Schlußstück der Reise das ehrwürdige Nürnberg, Albrecht Dürers und Hans
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/64&oldid=- (Version vom 29.5.2024)