In Tagen schwerer Not des Vaterlandes schrieb ich die „Lebensfreuden eines Arbeiterkindes“ nieder, um mich durch Versenkung in eine schönere Vergangenheit ein wenig aufzuheitern. Rechnete doch schon der weltweise Bacon die Erinnerungen aus der Kindheit unter die gesunden Arzneimittel. Da es nicht ausgeschlossen war, daß das Schriftchen auch andern anspruchslosen Leuten einige vergnügte Stunden bereiten könnte, ließ ich es in Druck erscheinen. Ich dachte, die geehrten Leser würden dann genug von mir haben. Es ist mir aber vielfach von nachsichtigen Freunden und liebenswürdigen Gönnerinnen, ja sogar von grimmigen Kritikern die Aufforderung zuteil geworden, meine „Denkwürdigkeiten“ fortzusetzen. Ich weiß dies als Kundgebung wohlwollender Gesinnung zu schätzen und will den geäußerten Wünschen, trotz mancher Bedenken, gern entsprechen. Doch muß ich mir bei den jetzigen Papier- und Druckpreisen Beschränkung auferlegen: wenn ich meinen Lebensfaden zu lang ausspinne, ist zu befürchten, daß der Herr Verleger sich die Schere der Atropos holen läßt. So will ich nur noch mein Leben und Streben als Schüler und Student schildern. Das bringt mir aufs neue heitere Stunden, denn ich bin so glücklich, auch diesen Zeitabschnitt ganz unter dem Gesichtspunkt des Reichtums an Lebensfreuden betrachten zu können. Zur notwendigen Kürze wird es viel beitragen, wenn ich so wenig als möglich von meinen schwachen Seiten rede, sie werden ohnehin deutlich genug aus dem fadenscheinigen Mäntelchen des Eigenlobs hervorschimmern
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/11&oldid=- (Version vom 25.5.2024)