Herrschaft war allerdings eine weitere Beschränkung der Autonomie und wohl ein weiterer Anlaß zur Mißstimmung in jüdischen Kreisen, da seit dem Untergang des Antonius keine römischen Truppen mehr im Lande gestanden hatten (s. S. 58f.).
Archelaos hat auch anscheinend nichts getan, um die Unzufriedenheit seiner Untertanen zu heben. Sollte es ihm mit seinen Versprechungen nach dem Tode des Vaters wirklich ernst gewesen sein, was allerdings nicht zu beweisen ist, so hat er sie jedenfalls später nicht erfüllt. Die seinerzeit auch vom Volke geforderte Absetzung des augenblicklichen Hohenpriesters Joasar ist zwar erfolgt, aber nur weil ihn der Ethnarch des Einverständnisses mit den Aufständischen beschuldigte (so richtig Brann 249 gegenüber Grätz III 1⁵ 252); die beiden Nachfolger hat er jedoch auch nur kurze Zeit im Amte gelassen und hat schließlich sogar wieder auf Joasar, der eine durchaus servile Natur gewesen zu sein scheint, zurückgegriffen (Joseph. ant. Iud. XVII 339. 341. XVIII 3. 26).
Außer diesem willkürlichen Schalten mit dem höchsten geistlichen Amt – er übt also wie sein Vater das ius circa sacra aus (ant. Iud. XX 149) – kennen wir noch eine das jüdische Empfinden aufs höchste verletzende Handlung des Archelaos, seine Heirat mit seiner Schwägerin Glaphyra, der Witwe seines Stiefbruders Alexandros, die von ihrem zweiten Gemahl, König Juba II. von Mauretanien, geschieden war. Diese stand am jüdischen Hofe infolge ihres Hochmuts in keinem guten Andenken, und vor allem verstieß diese Ehe des Schwagers mit der Schwägerin gegen das jüdische Gesetz, da Glaphyras Ehe mit Alexandros Kinder entsprossen waren. Archelaos hat damals seine erste Gemahlin Mariamme, die vielleicht seine Nichte war (s. die genealogische Tabelle), – die Zeit können wir leider nicht näher bestimmen, doch jedenfalls mehr gegen Ende der Regierung des Archelaos – verstoßen. Glaphyra ist übrigens bald nach dieser Heirat gestorben, was im jüdischen Volke als Gottesurteil gegolten zu haben scheint (Joseph. bell. Iud. II 114–116; ant. Iud. XVII 341. 349–353; der Traum, welcher Glaphyra ihren Tod ankündigt, ist wohl, zumal er von Josephus im Anschluß an einen Traum des Archelaos erzählt wird, als Produkt jüdischer Legendenbildung zu werten, an der die Essener besonders beteiligt gewesen zu sein scheinen [Joseph. ant. XV 373ff. XVII 346]).
Die uns in der Heirat so offen entgegentretende Verletzung des jüdischen Gesetzes darf uns jedoch nicht verleiten, in Archelaos einen besonders rücksichtslosen Übertreter jüdischer Sitte zu sehen. Das Schweigen unserer Archelaos nicht günstigen Überlieferung spricht schon dagegen, und noch entscheidender sind seine Münzen, auf denen er sich ebenso, wie sein Vater, gehütet hat, ein Menschenbildnis anzubringen. Seine Heirat darf man also wohl vor allem als ein Anzeichen einer über alle Sitte sich hinwegsetzenden Sinnlichkeit fassen. Auch sonst scheint er seinen Begierden zügellos nachgegangen zu sein; für große Trinkgelage hat er eine ganz besondere Vorliebe gehabt (Joseph. bell. Iud. II 29; ant. Iud. XVII 234. 344).
Ferner wird man den Ethnarchen ohne Bedenken [172] als rücksichtslosen, tyrannischen Herrscher bezeichnen können. Sein gewaltsames Vorgehen nach dem Tode des Vaters darf man freilich als Beleg hierfür nicht verwerten, da er sich zu diesem nur zögernd und notgedrungen entschlossen hat. Trotzdem wird man das allgemeine Urteil über die ὠμότης und τυραννίς seiner Regierung als gerecht anerkennen dürfen, und zwar nicht nur deshalb, weil hier die jüdische mit der christlichen Überlieferung zusammengeht (bell. Iud. II 111; ant. Iud. XVII 342. Matth. II 22. Luk. XIX 11ff.), sondern vor allem, weil gegen Ende der Regierung, als es galt, sich über diese bei Augustus zu beschweren, auch die Samaritaner, die zur Zeit des großen Aufstandes allein treu geblieben waren, sich gegen ihren Herrscher erhoben und zu seiner Beseitigung sogar mit ihren alten Todfeinden, den Judäern, zum erstenmal seit Jahrhunderten gemeinsame Sache gemacht haben.
Diese allgemeine Mißstimmung ist auch durchaus begreiflich, da das Regiment des Archelaos irgendwelche größere positive Leistungen anscheinend nicht gezeitigt hat. Denn die glänzende Restauration des in der Revolutionszeit zerstörten königlichen Palastes in Jericho, sowie die Gründung einer immerhin bedeutenden Ortschaft (κώμη), die er nach altem hellenistischem Herrschergebrauch nach sich Archelais benannt hat, selbst die hiermit in Verbindung stehende sorgsame und wirtschaftlich wertvolle Anlage von neuen Palmenpflanzungen in der Ebene von Jericho (Joseph. ant. Iud. XVII 340) sind als solche kaum zu werten (über Archelais und die dortigen Bewässerungsanlagen s. Guthe Mitt. u. Nachr. Deutsch. Paläst.-Ver. 1911, 65ff. und hierzu Thomsen ebd. 1912, 71ff. Vgl. die Bemerkungen S. 82 *[WS 1]).
Wenn man sein Vorgehen in der Zeit der Reichsverweserschaft nicht als reine Heuchelei und das Versprechen des Augustus, ihn eventuell später zum βασιλεύς zu ernennen, nicht als bloße Redensart fassen will, so wird man das Urteil fällen dürfen, daß er als Herrscher das nicht gehalten hat, was er zu versprechen schien, und zwar wohl nicht allein den Untertanen, sondern auch Rom gegenüber. Denn es ist sehr wahrscheinlich, daß gegen Archelaos im J. 6 n. Chr.[1] nicht allein
- ↑ Für die Chronologie s. Schürer I³ 416 und 453, 13. Josephus’ Angabe über die Länge der Regierungszeit im bell. Iud. II 111 unterscheidet sich von der der ant. Iud. XVII 342 und vita 5, da nach der ersten der Sturz im 9., nach der zweiten im 10. Regierungsjahre erfolgt ist. Da in der an die Erzählung des Sturzes sowohl im bellum als in den antiquitates sich anknüpfenden jüdischen Legende das einemal die Zahl 9, das anderemal die Zahl 10 eine Rolle spielt (bell. Iud. II 112f.; ant. Iud. XVII 345–347), so scheint es sich nicht um ein Versehen in dem einen Falle, sondern um zwei Rechnungsweisen zu handeln. Nimmt man das 10. Jahr als das richtige an (mit dem 9. würde man übrigens auch noch auf das auch durch Joseph. ant. Iud. XVIII 26 und Cass. Dio LV 27 gesicherte J. 6 n. Chr. kommen), so erklärt sich die Angabe des 9. Jahres durch ein Mißverständnis oder eine Flüchtigkeit gegenüber der bekannten Tatsache von 9 bereits verflossenen Regierungsjahren, vielleicht WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt bedingt durch die jüdische Legende, bei der wohl die Zahl 9, d. h. die Zahl der vollen Regierungsjahre zunächst Verwendung gefunden hat.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ S. 82 * = Anmerkung Seite 82 Zeile 1
Walter Otto: Herodes. Beiträge zur Geschichte des letzten jüdischen Königshauses. Metzler, Stuttgart 1913, Seite 171–172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Herodes.djvu/106&oldid=- (Version vom 18.8.2016)