Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band | |
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Wiens gelegen, ist doch das Klima rauher als in Danzig, und fast sibirisch. Langen und strengen Wintern folgen heiße Sommer von kurzer Dauer. Doch gilt dieß nur von der nächsten Umgegend, denn in der Entfernung von wenigen Meilen, nach der taurischen Landenge zu, ist das Klima schon viel milder, so daß selbst Weinbau gedeiht. Uebrigens entbehrt Taganrog nicht die Genüsse des Südens. Sein großer Verkehr mit Smyrna und den griechischen Inseln führt ihm die köstlichen Früchte in ganzen Ladungen zu, und so frisch, als ob sie den Tag vorher erst gepflückt worden waren; dabei ist ihr Preis unglaublich wohlfeil, so daß selbst der Lastträger an dem Genuß derselben Theil hat.
Taganrog liegt im Lande der don’schen Kosacken, im eigentlichen Donland. Der Fluch der Leibeigenschaft, welcher auf dem übrigen Rußland lastet, ist hier unbekannt. Der Kosacke ist so frei, wie der Deutsche nur seyn kann. Er ist unbeschränkter Herr seines Eigenthums, treibt, was er Lust hat, übt auf seinem Gebiete das Recht der Jagd und Fischerei und hat wenig oder gar keine Abgaben. Sein Kriegsdienst ist freiwillig. Man findet keinen Bettler und wenig Arme im Donlande. Fast überall herrscht Wohlhabenhelt und ein oft überraschender Grad von Bildung; denn der Kosack ist eben so haushalterisch und sparsam, als er wißbegierig, thätig, muthig und arbeitsam ist. Seine Sitten sind rein, besonders sind die Weiber strengen Gesetzen unterworfen. Ehedem wurde ein gefallenes Mädchen mit den Haaren an die Kirchthüre gebunden und alle Eintretenden spieen ihr in’s Angesicht. Eine Ehebrecherin begrub man lebendig. Der Kosacken Ehrfurcht vor dem Alter, ihre Gastfreundschaft und viele andere unter ihnen heimische Tugenden erinnern an die Zeiten der Patriarchen. Das Volk theilt sich in mehre Stämme; alle diese aber sind geschworene Feinde der tscherkessischen Völkerschaften, von deren Raubzügen sie, die schon viele Jahrhunderte die friedlichen Künste, Gewerbe und Ackerbau treiben, häufig zu leiden hatten. Diesen Erbhaß weiß das russische Gouvernement in seinem jetzigen Kampfe gegen die heldenmüthigen Kinder des Kaukasus gut zu benutzen. Ohne ihn, ohne den Beistand der Kosackenstämme, würde die Fortsetzung des tscherkessischen Kriegs kaum möglich seyn. In neuester Zeit hat die russ. Regierung auch den Eintritt der Kosacken in den Seedienst begünstigt und durch Vortheile aller Art ihn anlockend zu machen gesucht. Wirklich sind bereits alle Häfen des Donlandes, vorzüglich aber Taganrog, zu Pflanzschulen tüchtiger Seeleute geworden, und bei der Beharrlichkeit, mit der das Gouvernement seine Absichten durchführt, ist nicht zu zweifeln, daß bald der größere Theil der russ. Matrosen einem Volke angehören wird, das sich durch äußere Gestalt, Muth und natürliches Geschick vor dem russischen Leibeigenen eben so auszeichnet, als der freie Schweizer vor dem Neapolitaner. Das asow’sche und schwarze Meer sind recht dazu gemacht, den Seemann in Ueberwindung der Schwierigkeiten seines Handwerks zu üben; denn in der Welt gibt es keine, der Schifffahrt so gefährliche, bei stürmischem Wetter so furchtbare Gewässer. Jeder Orkan, der gewöhnlich urplötzlich und unerwartet losbricht,
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/179&oldid=- (Version vom 8.12.2024)