Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band | |
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Wollte man das zugeben, dann müßte man auch voraussetzen, daß ein Volk, seit vielen Jahrhunderten aufgezogen in der tiefsten Unwissenheit und in Unterwürfigkeit gegen seine weltlichen und geistlichen Treiber, ein Volk, das gewöhnt ist, alle Macht und allen Besitz im Staate als rechtmäßiges Erbtheil gewisser Stände zu betrachten, daß ein solches Volk, sage ich, vollkommen würdig sey zur Empfängniß und zum Genusse der Freiheit. Es müßten dann die Spanier, der großen Mehrzahl nach, nicht nur ihre Fesseln zersprengen wollen, man müßte auch urplötzlich geheilt sie denken von allem Wahnsinn des Aberglaubens, und unzugänglich den Eingebungen des Fanatismus. Von dem Joch einer von Grund aus verfälschten und betrügerisch gemißbrauchten Lehre, von den Ketten des Beichtstuhls und seinen Schrecken befreit müßte sich die spanische Nation selbst die reinen Lehren der Moral und Vernunft, wie sie Christus der Welt hinterlassen hat, wiedergeben können; Schöpfer ihrer Regeneration müßte sie sich frei halten vom Geiste des Schwindels, der Habsucht, der Ungerechtigkeit, der Rache; sie müßte gelernt haben, ihre Obrigkeit zu gleicher Zeit zu richten und zu ehren. Bei der plötzlichen Reform eines in Mißbräuchen so alt gewordenen Staats müßte Jeder seinem gewohnten Platz entrückte Einzelne Entbehrungen und das Unbequeme des Neuen geduldig hinnehmen: mit einem Worte, das spanische Volk müßte muthig und einmüthig seyn, seine Freiheit zu erobern, einsichtsvoll genug, um sie zu befestigen, kaltblütig und bescheiden genug, um sie zu ertragen, mächtig genug, um sie zu vertheidigen, und großmüthig genug, um sie zu theilen: Bedingungen, welche ein ungebildetes Volk niemals erfüllen kann. Nein! der wahren Freiheit goldene Frucht reift keiner Nation am vorübergehenden Phrasenfeuer einiger Redner; sie bedingt frühe, gesunde Aussaat voraus und in günstigem Boden, sorgsame Pflege, langsames Wachsen bei warmem Sonnenscheine und befruchtendem Regen; zur Reife, und nur zur Reife – Gewitter. Seht auf Nordamerika! Erst nach eines vollen Jahrhunderts Aussaat und Wartung hat es geärntet. Ein volles Jahrhundert lang arbeitete das Volk beständig an seiner politischen Durchbildung, und erst als sie vollendet war, nachdem schon zwei Generationen großgezogen worden in den reinen Grundsätzen des Republikanismus, nachdem das Volk die Beweise seiner Mündigkeit vor aller Welt abgelegt hatte, stand es auf, ein Herz und eine Seele, und erklärte sich – männlich, ernst und ruhig – für frei. Und was es erklärt hatte, verfocht es, mit ausdauernder Begeisterung, acht Jahre lang siegreich gegen die größte Uebermacht, mit der jemals ein aufgestandenes Volk zu kämpfen gehabt hat. Sein Weg war bestimmt der längste und beschwerlichste; aber er führte zum Ziele. Jeder andere wird immer mehr oder weniger fern von demselben bleiben; eine Wahrheit, für welche es keine warnendere Beweise geben kann, als die Geschichte der Revolutionen unserer Tage. –
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1836, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_3._Band_1836.djvu/95&oldid=- (Version vom 2.8.2024)