Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band | |
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es ihnen an sichern und kostenfreien Einkünften niemals ermangelte. Sie erfanden das Schaugepränge des Kultus, um zu spielen dabei vor dem gaffenden Volke die Rolle der Götter, für deren Dollmetscher und Mittler sie sich ausgaben, und deren Macht sie sich anmaßten; und sie erhoben die Gewalt der Könige und heiligten ihre Personen, um als Schöpfer dieses Nimbus, ihre eigene Erhabenheit den Völkern um so eindringlicher, die Gesalbten um so gewisser zu ihren Verbündeten zu machen, welche sie an unsichtbaren Fäden leiteten. Sie predigten die Schädlichkeit der Aufklärung, um im alleinigen Besitz alles Wissens zu bleiben, und verkehrten den öffentlichen Unterricht da, wo sie ihn nicht gänzlich hindern konnten, so, daß er das Volk nur dümmer und knechtischer, nicht klüger und verständiger machte: kurz, diese Kaste, die sich zu allen Zeiten und unter allen Völkern so zu stellen wußte, daß sie allen Lasten und Beschwerden anderer Stände entging, und „die Rosen des Lebens ohne Dornen brach,“ übte Jahrtausende lang das Geheimniß: mitten in der Anarchie in Frieden, unter dem Despotismus, den sie stets begünstigte, in Sicherheit, unter der Arbeit, die sie predigte, in Ruhe und im Nichtsthun, im Schooße des Mangels in Ueberfluß, und in der Demuth als Herrscher über Zeitlichkeit und Ewigkeit zu leben.
Was man aber dem Volke als heilige Wahrheit lehrte, das, die Religion des großen Haufens, konnte die Geweiheten, die Priester nicht befriedigen. Außer dem allgemeinen Kultus bestand daher überall, wo der ägyptische das Fundament bildete, noch eine geheime Lehre für den engern Kreis der Auserwählten. Man kann sich denken, daß es damals, mehr noch wie jetzt, Wahrheiten gab, deren unverhüllte Anschauung dem Volke niemals vergönnt werden durfte. – Erst in spätern Zeiten, als auch profane, nicht zur Kaste gehörige Denker (vorzüglich griechische Philosophen) auf dem Wege der einfachen Speculation zur Erkenntniß des Nichtigen und Trügerischen im öffentlichen Kultus, und zur höheren Wahrheit gelangten, bildeten sie, diese edlen Männer, die immer das Ziel der Verfolgung der Priesterkaste waren, einen ausgewählten Kreis von Zöglingen um sich, um diese Erkenntniß dauernd zu machen; und so entstanden Verbrüderungen, aus deren Mitte auch in die Völkerkreise so viel Licht strahlte, als der allgemeine Kulturzustand und die Verhältnisse nur immer erlaubten. Diese waren es, welche den orthodoxen Polytheismus untergruben, die Allmacht und das Ansehen der Priester schwächten, und die Massen für die Aufnahme der Christuslehre allmählich vorbereiteten. –
Eines der allermächtigsten und dauerhaftesten Werkzeuge in den Händen der Priester zur Erhaltung ihrer Herrschaft waren die Orakel. Ihre Erfindung zeugt von einer tiefen Kenntniß der menschlichen Natur.
Unaufhörlich wird die Mehrzahl der Sterblichen von dem unruhigen Verlangen geplagt, den Schleier zu lüften, welcher über ihrer Zukunft liegt. Immer vermuthen sie zwischen vorhandenen oder eingebildeten Gefühlen, die sie Ahnungen nennen, und künftigen Ereignissen ein geheimnißvolles Band, ein Glaube, der sich am Ende auf die lächerlichste Eigenliebe gründet, welcher der Mensch sich nur hingeben mag. Denn was ist dein Ahnungsglaube, bei Licht betrachtet, anders, als der Wahn, die Allmacht werde aus absonderlicher Theilnahme an deiner kleinen Persönlichkeit und
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1836, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_3._Band_1836.djvu/143&oldid=- (Version vom 4.8.2024)