Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band | |
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Glieder heilte, die Schlangen betasten und wundergleiche Erscheinungen hervorbringen konnten, am Ende als eine höhere Gattung von Wesen und als Befreundete der himmlischen Mächte betrachtete? War es zu verwundern, daß es, um das Gute, was es wünschte, zu erhalten, und das Böse abzulenken, jene Menschen zu Mittlern und Dollmetschern annahm zwischen sich und den Göttern? – Seht! auf solche Art ist die Kaste der Priester, jenes Ungeheuer entstanden, welches unter dem Namen der Religion ein Reich der Mysterien und ein Monopol des Wissens aufrichtete, jene fluchbeladene Kaste, welche im Bunde mit der Despotie die Völker verdummt und das Fortschreiten der Menschenbildung auf Jahrtausende gehemmt hat.
Durch Kekrops nach Griechenland getragen, und durch die phönizischen und ägyptischen Handelscolonien in alle Küstenländer des mittelländischen und atlantischen Meeres bis zu den Säulen des Herkules und dem Meerbusen von Guinea verbreitet, wurde das Religionssystem der Aegypter zur Mutter des ganzen abendländischen Polytheismus, der, von den Griechen verschönert, unter der Weltdiktatur Roms fortblühete, bis er, geschwächt durch die Forschungen der Philosophen, vor den einfachen, von einer trostlosen Menschheit mit Jubel begrüßten Lehren des Gekreuzigten allmählich schwand. Kein System hat länger gedauert, keines eine gleiche Herrschaft geübt. Die ganze alte Welt trug seine Fesseln; ja, durch Zeiten, Umstände und Vorurtheile gemodelt, macht es sich jetzt noch bei vielen Völkern und Religionen offenbar, und selbst bei denjenigen, die es verachten, lebt es in den Symbolen fort, und zieht wie ein geheimer Faden durch ihre theologischen Systeme. –
Bei der Ausbreitung des ägyptischen Kultus entwickelte die Priesterkaste eine rastlose Thätigkeit; denn sie sah in dieser Ausbreitung das wirksamste Mittel zur Erweiterung und Befestigung ihrer Macht, und zur Ausführung ihres ungeheuern Planes, der, durch die Bevormundung aller Völker, nichts Geringeres als die Weltherrschaft erstrebte. –
Einig in der Verfolgung dieses Ziels überall und durch alle Zeiten, waren auch der Geist der Priester, ihr Verfahrungssystem und ihre Handlungsweise bei allen Völkern gleich. Die Religion, hinfort blos der Deckmantel und die Dienerin dieses Strebens, wurde zum Mittel erniedrigt, den Verstand der Nationen durch Aberglauben zu verhüllen, und sie in Finsterniß nach Gefallen zu lenken. – Das Nachdenken über religiöse Mysterien stempelte man zum ärgsten Frevel an der rächenden Gottheit. Autorität trat an die Stelle der freien Forschung, die Schrecken der Strafgewalt an jene der Ueberzeugung, das Monopol der Wissenschaften endlich lieferte den Priestern die Verwaltung des Staats in die Hände und immer neue Mittel, das erniedrigte Volk nach Gefallen zu plündern. Alle Tugenden sogar wurden in den Händen dieser Menschen zum Mittel, ihren heuchlerischen und unbegrenzten Egoismus zu befriedigen. Um den Sorgen des Reichthums zu entfliehen, hüllten sie sich in den Mantel freiwilliger Armuth; und arm, sicherten sie sich des Reichthums Genuß. Um von häuslichen Sorgen und Mühen verschont zu bleiben, lebten sie im Cölibate. Sie erhoben die Selbstbeschauung und die Andacht zur Tugend, damit man ihren Müssiggang achte, und sie von der Arbeit Anderer in geehrter Faulheit leben konnten. Sie nannten Gaben und Opfer den Göttern gefällige Werke, damit
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1836, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_3._Band_1836.djvu/142&oldid=- (Version vom 4.8.2024)