Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band | |
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Cathedrale der Christenheit machen sie weltberühmt. Dieser romantische Bau, von den Sachsen begonnen, von den Normannen fortgeführt und erneuert, dankt seine Entstehung einer Veranlassung, wie sie nur in jener finstern Zeit möglich war, in welcher Unwissenheit und Aberglaube die Vernunft in ehernen Fesseln hielten und die Einfalt und der fromme Sinn der Menge einer schlauen Priesterkaste zur Ausbeute ausschließlich Preis gegeben war. Die wunderliche Geschichte ist folgende.
Dänische Piraten machten zu Anfang des zehnten Jahrhunderts die Ostküsten von England so unsicher, daß sie verödeten. Bei ihren häufigen Einfällen unternahmen sie nicht selten Streifereien tief in’s Innere, und, was ihnen an Zahl abging, ersetzten sie durch den Schrecken, der sie begleitete. Jeden ihrer Schritte bezeichnete Sengen und Brennen, Mord und Raub. Bei einem solchen Streifzuge kamen sie einst auch in die Nähe von Lundisfarne, Kloster und Wallfahrtsort mit dem Grabe des heiligen Cutbert. Die Mönche flohen: – die Piraten raubten das Wenige, was sie fanden, steckten das Kloster dann an und zogen weiter. Als die Priester zurückkehrten, fanden sie rauchende Trümmer; aber mit heiligem Eifer räumten sie den glühenden Schutt auf, nach dem Sarge Cutberts zu forschen. Zu ihrer Freude und ihrem Erstaunen fanden sie ihn unversehrt – und, als bei’m Aufnehmen der Deckel sich öffnete, sahen sie, o Wunder! daß der Leichnam, der vor vier hundert Jahren begrabene, noch unverwest war, noch frisch wie eine Leiche von gestern. Sorgfältig verschlossen sie den Schrein wieder und bargen ihn bei anbrechender Dunkelheit in eine nahe Felsenhöle, wo sie sich über den Wiederaufbau des Klosters beriethen. Die Furcht vor der Dänen Wiederkehr erfüllte ihre Herzen mit Kleinmuth, und, ohne einen Entschluß gefaßt zu haben, überließen sie sich dem Schlafe. Da erschien ihnen in der Nacht der Heilige und verkündete, daß es sein Wille sey, künftig an anderer Stelle zu ruhen: er werde sie ihnen selbst bezeichnen. Scharfsinnig deuteten die frommen Väter die nächtliche Offenbarung dahin, der Heilige wolle sich im Lande erst umsehen, und gehorsam und wohlgemuth nahmen sie am andern Frühmorgen den Sarg auf ihre Schultern und wanderten damit landeinwärts. Die Kunde von dem Wunder lief ihnen überall voraus, und wohin sie kamen, in Stadt und Dorf, in Burg und Schloß, riefen die Glocken Willkommen entgegen, empfing man sie festlicher und ehrfurchtsvoller wie reisende Könige. –
Kein Wunder, daß das dem Heiligen gefiel und er lange zauderte in seiner Wahl; und noch weniger Wunder, daß sich die frommen Männer über solch Zaudern nicht grämten. Viele Jahre lang ging es so fort; es war ein lustiges sorgloses Leben; doch um so viel Jahre auch alterten und steiften die Beine der reisenden Priester. Das Angenehmste ermüdet, wenn es zu lange dauert, und der Genuß selbst wird dem Alter eine Last. Das fühlten auch die Mönche und schon manchen Morgen pilgerten sie verdrossener von dannen als sonst. – Sie hatten einst Nachtlager in Aukland bei’m Bischof gehalten und zogen die Straße nach New-Castle durch tiefen Wald. Es war ein heißer Tag, der Weg ein weiter. Auf einer waldlichten Höhe, die den labenden Hinunterblick auf ein grünes, trauliches Thal, von einem krystallnen Strom bewässert, bot, – setzten die Müden den Sarg ab und ruhten. Wie schön ist’s hier, sagte der Eine; wären wir doch am
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1835, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_2._Band_6._Auflage_1835.djvu/143&oldid=- (Version vom 24.6.2024)