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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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Die rechte Zeit, Kissingen zu besuchen, die Saison, beginnt jetzt etwas früher, als ehedem, schon im Mai. Ich würde den Juni wählen, wenn das Land umher einen Garten bildet, die Wiesengründe in vollem Blumenschmucke stehen, das dichte Laub des Waldes den Spaziergänger in seine Schatten einladet, die murmelnden Bäche Kühlung fächeln und die Wohlgerüche aus den Thälern und von der schon Alpenflora erzeugenden Rhön die Luft würzen und ihr begeistigende Kräfte verleihen. Auch wer sich an der Fröhlichkeit eines muntern, kräftigen Volks ergötzen mag, der komme zur Zeit der Heuerndte her, welche in den Rhöngegenden mit Gesang, Tanz und Scherz begangen wird, wie in den Weinländern der Herbst.
Der größte Schatz Kissingens war von jeher der Raggozzibrunnen; aber wohl Niemand dachte vor einem Menschenalter daran, daß der Gebrauch desselben zu solcher Ausdehnung gelangen könnte. Als wäre er ein universelles Panaceum gegen den die Gegenwart beherrschenden Krankheitsgenius, wird er in jährlich steigender Menge in alle Welttheile verfahren, und wie die Alten an einen Wunderborn der Verjüngung glaubten, so glaubt die heutige Welt durch ihn neues Leben und Erkräftigung zu schlürfen. Ehe noch der Frühling den Bergen ihr weißes Kleid ausgezogen hat, zu Anfang März, beginnt die Füllung des Raggozzi an der Quelle und die Verladung erfolgt in ganzen Karavanen von Frachtwagen nach allen Richtungen. Täglich werden wohl an 10,000 Krüge und Flaschen gefüllt, und es gewährt einen eigenen Anblick, einige und 30 Personen fortwährend mit dieser Arbeit beschäftigt zu sehen. – Mittelst eines sinnreichen Apparats wird das Wasser für lange Seereisen zu besserer Haltbarkeit jetzt mit einer größeren Menge kohlensauren Gases imprägnirt und auch das Verkorken besorgt eine Maschine auf die vollkommenste Weise. Das Füllungsgeschäft und das Versenden des Wassers nehmen erst dann ab, wenn der Sommer naht und die Schaaren der Kurgäste aus allen Zonen und Völkern den Brunnen zu umwogen anfangen. Doch hört es nie ganz auf, und selbst bis tief in den Winter dauert die Verschickung fort, wobei es zuweilen wohl geschehen mag, das ganze Ladungen mit gesprungenen Flaschen und gefroren den Ort ihrer Bestimmung erreichen.
Zu Ende des Juli ist das Leben der Badewelt gemeinlich am glänzendsten und vollsten. Man zählt dann oft an 2000 Gäste, und die Conversation an den Brunnen und in den Salons bewegt sich in allen Sprachen der civilisirten Erde. Ende August hat sich die vornehme Gesellschaft, welche der Saison Glanz gab, meist entfernt, und was im September noch an Kurgästen da ist, gleicht den zurückgebliebenen Schwalben nach dem Fortzug der übrigen. Jeder Tag macht die Verödung bemerklicher, bis der Spätherbst auch die letzten Gäste verscheucht hat. Dann schließen sich die Gasthöfe; selbst im Kurhause reduzirt sich die Schaar
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/92&oldid=- (Version vom 3.3.2025)