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Seite:Meyers Universum 11. Band 1844.djvu/79

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CCCCLXXXIV. Die St. Michaelskirche in Velay (Frankreich.)




Die ganze Auvergne ist ein Gebilde längst erloschener Vulkane. Man zählt in dieser Provinz Frankreichs etwa 600 ehemalige Feuerberge auf, deren Krater zum Theil noch offen sind, und die Trümmer einer noch größern Menge, welche einbrechende Fluthen zerstört haben, füllen die Thäler und bedecken mit ihren Schutthügeln weite Strecken. Am wildesten charakterisirt sich der einstige Kampf des Feuers und der Gewässer in der Landschaft Velay. Dort sieht man Basaltberge vom Kopfe bis zum Fuße gespalten, ihre Seiten weggerissen, und die Ueberbleibsel ragen wie Thürme und Obelisken empor. Betrachtet man diese Bauwerke der Natur, so denkt man an die Mythe der Giganten, welche Berge zerbrachen und Stücke derselben aufeinander thürmten, um den Himmel zu stürmen.

Alles Große und Ungeheuere in der Natur stimmt zu religiösen Gefühlen; denn wo die Allmacht des Schöpfers dem äußern Sinne sich aufdrängt, kömmt auch der roheste Mensch zur Erkenntniß seiner Ohnmacht; er fühlt seine Abhängigkeit von höhern Gewalten, er fürchtet sich und aus der Furcht erwächst ihm Gottesfurcht. Darum sind alle Bergvölker fromm und der Glaube ist bei ihnen unwandelbarer, als bei den Bewohnern der Flachländer.

Bigotterie, die sich in starren Formen gefällt, ist ein Grundzug des Volks in der Auvergne. Sie ist es gewesen, welche die wild-erhabene, wundervolle Landschaft staffirte: – auf allen Höhen sieht man das Zeichen der Erlösung ragen, auf allen Felsen steht irgend ein wunderthätiges Bild eines Heiligen mit seiner Kapelle, und Wallfahrtskirchen und Klöster krönen alle Berge.

Unser Stahlstich gibt von der eigenthümlichen Szenerie des Landes ein imposantes Bild. Es zeigt uns eine Kirche, die auf dem Gipfel eines natürlichen Obelisks gebaut ist. Dreihundert Fuß Höhe hat der Basaltblock, den man auf Treppen ersteigt, welche in das Gestein gebauen sind. Die Kirche, dem Erzengel St. Michael geweiht, ist eine der ältesten im Lande; schon im fünften Jahrhundert richtete sich hier der christliche Kultus in den Trümmern eines Dianentempels ein, welchen die Römer erbaut hatten. Man sieht noch einige Säulen und Gesimse desselben im Gotteshause, und – (wunderliche Metamorphose!) – eine Statue der keuschen Olympierin küssen die Gläubigen als – Mutter-Gottes.