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Seite:Meyers Universum 11. Band 1844.djvu/71

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Auf der Bergebene sieht man in einzelnen, zwergartigen Lerchen die letzten Spuren des Baumwuchses; das glühende Alpröschen aber und das Schneeglöckchen sticken lieblich Pfad und Matten und ihr Leben umrahmt gleichsam der Tod in den starren Massen des ewigen Eises. Der Weg zieht sich, nachdem er die Ebene verlassen hat, eine dunkele Bergschlucht hinan. Es ist dies die gefährlichste Stelle. Lawinen und Schneestürme, die selbst im Hochsommer vorkommen, bringen öfters Lebensgefahr, und hier ist’s, wo sich die erste Station der Klosterbrüder befindet, welche Menschenrettung sich zur Lebensaufgabe machen. Ihr Aufenthalt ist eine aus Baumstämmen geformte Hütte, und eine zweite daneben dient zur Zuflucht der Reisenden.

Von diesem Punkte bis zum Hospiz, auf dem Nacken des Passes, ist’s noch eine halbe Stunde.

Aber welch ein Aufenthalt für Menschen, und noch dazu für gebildete und lebensfrische Menschen! – Winter, nur Winter Jahr aus, Jahr ein. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm grünt auf diesem höchsten bewohnten Punkt unsers Welttheils. Nichts als Felszacken und ungeheuere Bergtrümmer, nichts als Schnee und Eis sieht man um sich, oder in Wolken gehüllte, höhere, auch mit ewigem Eis und Schnee bedeckte Gipfel. Keine Gemse irrt herauf, kein Vogel horstet in dieser Höhe; todt ist die organische Natur; nur des Gnomenlebens unheimliche Zeichen unterbrechen das tiefe Schweigen: die Schreckenstöne stürzender Lawinen, oder zusammenbrechender Felsmassen, oder das Krachen der Gletscher. Und in diese schreckliche Oede fesselt das frei gethane Gelübde achtzehn Jahre lang jeden der frommen Väter zur Erfüllung der schweren Pflicht, Erquickung und Hülfe zu geben allen Nothleidenden, welche durch diese Wüste wandern.

Die Gründung des Hospiz reicht in das graue Alterthum hinauf. Schon zur Römerzeit stand hier ein dem rettenden Jupiter geweihter Tempel, und die heidnischen Priester übten wahrscheinlich dasselbe Werk der Menschenliebe, welchem sich jetzt die christlichen widmen. Die Klostergebäude selbst sind massiv aufgeführt und so geräumig, daß etwa sechzig Reisenden ein bequemes, der achtfachen Zahl aber ein nothdürftiges Unterkommen gewährt werden kann. Die Zahl der Mönche wechselt zwischen zehn und vierzehn. Jeder besitzt zwei Hunde, – eine vom Gotthardt’s-Hospiz herstammende, große, starke Doggenart, – welche er bei seiner täglichen Durchforschung der Gegend nach hülfsbedürftigen Reisenden mit sich nimmt, um ihm das Auffinden der Nothleidenden und deren Rettung zu erleichtern. Bei Nacht streifen diese verständigen Thiere weit umher, und finden sie einen Verirrten oder vom Schnee Verschütteten, so ruft ihr, wohl eine Stunde weit hörbares, Bellen die Mönche zum Beistand herbei. Alle Lebensbedürfnisse, selbst das Brennholz, werden von den nächstgelegenen schweizerischen und italienischen Ortschaften auf Saumthieren heraufgebracht, und da die Klosterbrüder durch Schneestürme und übles Wetter oft Wochenlang von aller Gemeinschaft mit der übrigen Welt abgeschnitten werden, so müssen sie immer auf große Vorräthe bedacht seyn. Einen Jeden, der des Wegs zieht, wes Standes, Volkes,