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Seite:Meyers Universum 11. Band 1844.djvu/70

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So wird auch der, welcher über den großen Bernhard, den höchsten Gebirgspaß Europa’s, steigt, schwerlich lange nachher noch das sich deutlich vorstellen können, was er auf dieser Wanderung Herrliches und Großes in der Alpenwelt gesehen hat; denn vor und nachher sah er des Aehnlichen so viel, und was man oft sieht, ermüdet und wird gewöhnlich, wäre es auch das Erhabenste und Vortrefflichste. Der Diener des Vatikans, der täglich die Fremden zu den Wunderwerken der antiken Kunst führt, geht an ihnen so gleichgültig vorüber als an einem Steinhaufen. Aber die willkommene, die gastliche, uneigennützige Aufnahme, die den Reisenden auf der unwirthlichen Höhe in dem einsamen Wolkenhause der frommen Augustiner überraschte, – was er dort gesehen und erlebt, Das wird er nie vergessen.


Der Paß über den St. Bernhard aus der Schweiz nach Italien ist ein uraltes Band beider Länder. Schon in vorchristlicher Zeitrechnung war er gangbar; ein Saumweg bestand während des ganzen Mittelalters. Die Straße beginnt bei Martigny, einem schön gelegenen Städtchen, bei welchem die Drance, ein klarer Bergstrom, in die Rhone fällt. Ueber zwei Stunden lang folgt sie dem Laufe jenes Flusses, verläßt ihn dann und steigt im engen Thale von d’Entremont zwischen hohen Bergwänden empor. Beim Dörfchen Liddes, 6 Stunden von Martigny und auf halbem Wege zum Hospiz, hört ihre Fahrbarkeit auf; Waaren und Menschen werden dort auf Saumthiere geladen; der Reisende legt dem Thiere die Zügel auf den Hals und überläßt sich der Sicherheit seiner Tritte. St. Pierre, eine Stunde weiter aufwärts, ist der letzte Weiler. Von nun an ist der Weg sehr beschwerlich und nicht ohne Gefahr. Auf schmalen, ungleichen, oft in scharfen Winkeln umbiegenden Fußpfaden geht es langsam vorwärts. Mit jedem Tritt verwildert und verödet die Gegend mehr. Schwärzliche Kiefern, deren Kronen der Sturm gebrochen und welche die Last des Schnees entzweigt hat, bedecken die Abhänge, oder gucken geisterhaft aus den Schluchten und Spalten herauf, an denen der schmale Pfad sich hinkrümmt. Die Vegetation schrumpft in immer kleinere Formen zusammen; der majestätische Wald wird zum niedrigen Buschwerk, bis er ganz aufhört. Lange Bergebenen folgen, auf denen moosreiches, niedriges Gras wächst und ein paar Sennhütten stehen. Doppelreihen von Schnee- und Eisriesen steigen vorwärts auf mit zerschmetterten Felsenhäuptern und scharfen, in den Himmel stechenden Spitzen, und nur der schimmernde Dom des Montblank erscheint so ganz und so fest unter den Bergruinen, wie der Tempel des Theseus unter den Trümmern Athens. Auf den Schneefeldern aber, zwischen den hohen Kolossen, senken sich massige Gletscher hinab in die Schluchten, durch welche sie ihre Kinder, die tobenden Giesbäche, den tiefern Thälern zuschicken.