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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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In England ist die Zeit eine Rente, ein Schatz, eine kostbare Waare. Man geizt dort nicht mit dem Gelde, man geizt mit den Stunden. Die Geschäfte wie das Vergnügen tragen den Stempel der Eile. Die englische Sprache selbst ist auf Zeitersparnis eingerichtet; denn in seiner Aussprache verschluckt der Engländer gleichsam die Buchstaben und lispelt nur die Worte. „Ist es ein Wunder,“ bemerkt der scharfsinnige Voltaire, „daß die Engländer die andern Nationen überflügeln? Sie ersparen am Sprechen mindestens 2 Stunden täglich, und diese, der Arbeit gewonnen, machen sie zum reichsten Volke und zu Gebietern der Welt!“
Ganz anders ist es in Oesterreich. In diesem von der Natur so gesegneten Lande, dessen Kapital so unerschöpflich ist, wie seine Volkskraft unverwüstlich, ist das Leben noch nicht zur Rennbahn geworden, auf welcher ohne Hatz und Schweiß kein Ziel zu erringen ist und wo jedes Stillstehen einer verlorenen Partie gleichkommt. In Oesterreich sind noch Behaglichkeit und Ruhe zu Hause und selbst die Gewerbe und der Handel, der Fleiß und die Spekulation schreiten dort geräuschlos und gemessenen Schritts voran, und gelangen demungeachtet zu tüchtigen und entfernten Zielen. Dies ruhige Vorwärtsschreiten drückt sich in den Verhältnissen des Staats, des Volks und des Landes aus. Es gönnt dem Alten neben dem Neuen sein Recht und seinen Platz.
Selbst die Wohnsitze der Großen geben nicht selten zu der Wahrheit dieser Bemerkung Belege und manche Anlage bestätigt sie, wo Geschmack und Reichthum mit einander wetteifern, Prächtiges zu schaffen. Nirgends so häufig als in Oesterreich sieht man des Alterthums graue, modernde Ruinen neben den Schlössern der Neuzeit, und was die Ehrfurcht gewaltsam zu entfernen sich scheut, wird oft mit Vorliebe gepflegt. Ein Beispiel davon gibt das reizende Bild Wallsee’s. Umgeben von neuen glänzenden Prachtgebäuden, steht hier der umrankte, uralte Thurm der Ahnenburg mit seinem grauen Haupte, wie ein Großvater im Kreise blühender Kinder und Enkel.
Schloß Wallsee gilt als der prächtigste Edelsitz von Linz bis nach Mölk hinab. Er steht auf einem Felshügel, an dem die Donau mit gewaltigem Stoße ihre schäumenden Wogen bricht. Seine Lage ist entzückend. Von der Gallerie des hohen Schloßthurms übersieht man das Donauthal mit seinen Auen, Ortschaften, Schlössern und Klöstern bis Linz, dessen Thürme in grauer Nebelferne die Aussicht begrenzen. Das Schloß ist neu; aber die Burg, die
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/167&oldid=- (Version vom 5.3.2025)