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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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Seufzer und Thränen zählen diese Stätten, wie viel unschuldige und edle Menschen mögen hier verhöhnt, zertreten, durchbohrt worden seyn! – Stille, stille! diese Trophoniushöhlen des gekrönten Lasters schließe der Gedanke nicht auf. –
Zwischen dem Vorgebirge von Miseno und Pozzuoli stehen die Ruinen eines zweiten Palastes des Nero auf hohem Uferrande, und unter demselben sind die bei den Alten so berühmten warmen Bäder – noch jetzt theilweise zugänglich und deren Heilkraft von Landleuten noch immer versucht. Ihr Eingang ist, stollenartig, unter einer hohen Felswand. Ein langer, ausgewölbter, schlüpfriger Gang führt zu einem in den Fels gehöhlten, zirkelrunden Becken von 6 bis 10 Fuß Tiefe und 60 Fuß Umfang, in welchem das Wasser eine Wärme von 70 Grad Reaumur hat, den Kochpunkt also nicht ganz erreicht. Der heiße Dampf füllt schon von fern alle Räume, und verbunden mit der Wärme des Felsens selbst setzt er den Besucher schnell in den stärksten Schweiß. Man bemerkt viele Seitengänge, welche wahrscheinlich in andere Dunstbäder führen; aber Niemand wagt sie zu betreten, denn das Mauerwerk derselben ist größtentheils eingestürzt.
Fort aus diesen dunkeln, unheimlichen Badehöhlen! fort aus dem Staube der Tyrannenherrlichkeit und hinauf auf Miseno’s Felszunge, hinauf zum labenden Ausblick in die große Natur! Schmal und von der Brandung vielfältig ausgezackt tritt das Vorgebirge weit in’s Meer hinaus, und auf seinem Scheitel grünt’s und blüht’s beständig; denn dieser Fels, wie die ganze Gegend, ist vom unterirdischen Feuer erwärmt, und wenn der kurze Winter Neapels die fernern Höhen weiß kleidet, bleibt hier kein Schneeflöckchen liegen. Der Blick beherrscht beide Meerbusen mit ihren Inseln, die Küste von Gaeta bis Sorrent, den Vesuv, und an hellen Tagen dringt er bis zur Küste Siziliens. Rückwärts aber öffnet sich der Garten Italiens, die Campagna Felice, überragt von den blauen Gipfeln der Appenninen. – Wenn eine glücklich gewählte Stunde Naturschauspiele und Beleuchtungsscenen schenkt, wie bei Gewitter, Morgen- und Abenddämmerungen; oder eine Mondscheinnacht, wo der silberne Ocean geisterhaft aus der Tiefe heraufblickt, während der ferne Vesuv seine dunkelrothe Leuchte aufsteckt, indeß die Trümmer der alten Welt ihre Riesenschatten auf die Landschaft werfen; oder wenn der Vesuv tobt, ein Sturm unter der Erde rollt, die alten Todtenurnen einfallen und die aufgerüttelte Phantasie wandelnde Geister ziehen sieht: – dann gewährt dieser Standpunkt eine Erinnerung, deren Bild keine Zukunft verwischt. Das Schönste aber gibt ein lichter Frühmorgen, wenn noch die Sternbilder des Himmels scheinen, die goldenen Wolkengebirge im Osten lagern und auf den Wellen unten zitterndes Glockenspiel ertönt: – und dann mag ein Blick auf die Trümmer der Vergangenheit fallen und der Gedanke trösten: Die alte Welt mit ihrer Größe und ihrer Qual liegt im Grabe. Allmächtiger, habe Dank! sie ersteht nicht wieder!
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/106&oldid=- (Version vom 3.3.2025)