![]() |
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
|
bleibt, welche man sonst nur in den Tropenländern findet. Selbst die Baumwollenstaude und das Zuckerrohr kommen fort, und andere gleichzarte Pflanzen verweilen hier, genährt von der fruchtbaren, milden Erde, erwärmt von dem im mütterlichen Schooße glühenden Feuer und von dem kräftigen Sonnenstrahl, der nicht sengt, weil er sich an dem Hauche des Meeres kühlt.
Der nächste Tag war der Besteigung des Monte San Nicolo bestimmt. Unter Begleitung eines Führers und versehen mit frischen Maulthieren machten wir uns früh auf. Anfangs ritten wir zwischen Gartenmauern hin – unter einem Dach von Obstbaumzweigen, die ihre Früchte auf unsern Pfad streuten. So wie wir aber die Gärten hinter uns hatten, ging es steil aufwärts. Je näher dem Gipfel, je unwegsamer wurde es. Ungeheuere Tuffsteinblöcke versperrten öfters den Pfad und wir mußten sie umklettern; an andern Stellen hingen Lavafelsen über unsern Häuptern wie gefrorne Wasserfälle, mit langen Zacken. Fünftehalb Stunden brauchten wir, den Gipfel zu erreichen, und ganz ermattet klopften wir an das Pförtchen der Einsiedelei, wo zwei Patres aus dem Kloster der Stadt abwechselnd ihre Wohnung haben. Sie hießen uns mit Herzlichkeit willkommen und brachten uns einen Krug köstlichen Bergwein und einen großen Laib Waizenbrod mit freundlicher Miene.
Nachdem wir uns gestärkt hatten an den Gaben der gastfreien Mönche, erstiegen wir, von ihnen geleitet, den äußersten, höchsten Rand des Kraters. Leider nahm uns ein umwölkter Himmel die Pracht einer hellen Beleuchtung. Graue Wolken zogen ostwärts; an ihnen sahen wir die Schatten des gezackten Berges, auf dem wir standen; tief unter uns lag das Meer, lagen die andern Inseln, die ausgeschnittenen Gestade Italiens und Siciliens, mit ihren Wächtern – Vesuv und Aetna. Aus beiden stiegen weiße, lichte Rauchwolken empor, die Zeugen ihrer Thätigkeit. Der Vulkan, auf dem wir standen, schlummerte. Nur wenn seine mächtigern Nachbarn Flammen speien und glühende Lavaströme hinabrollen, bei sehr heftigen Ausbrüchen und Erdbeben, gibt der San Nicolo noch Lebenszeichen von sich. Sein letzter eigentlicher Ausbruch geschah vor 500 Jahren.
Der Rückweg war nicht weniger beschwerlich, als die Besteigung, und erst auf der Hälfte des Berges erfreute uns, in der Umgebung der herrlichsten Natur, ein bequemerer Pfad. Zwischen blühenden und fruchttragenden Orangenbäumen öffnete sich zuweilen ein Durchblick auf’s Meer, die Inseln, die Küsten. Ein zarter, lichter Dunst, welcher dem südlichen Italien eigen ist, warf einen Zauberschleier über alle Gegenstände und erhöhte die Reize der Aussicht. Mit Anbruch der Dämmerung kamen wir nach Borgo d’Ischia zurück. Der Dämpfer lag schon parat, uns aufzunehmen. Schwärme von Delphinen umspielten das Boot auf der ganzen Fahrt, und nach kurzen drei Stunden saßen wir schon wieder im Salon des Onkels und erzählten einander von der Freude der zwei Tage, die Jeden von uns wie selige Träume durch’s Leben begleiten werden.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/202&oldid=- (Version vom 15.2.2025)