Zwischen beiden hat sich eine Kluft aufgethan. Alle Versuche, dies zu verheimlichen, sind umsonst und der entschiedenen Lösung der Probleme hinderlich. Nur die Erkenntniß dieser Kluft kann uns Klarheit über die Irrungen der Zeit und die Sicherheit, ihnen entgegenzutreten, verschaffen.
Die wichtige Frage, die wir demnach zu beantworten haben, ehe wir uns jener der Sittlichkeit zuwenden, lautet: Was ist das Wesen der Kunst? Und hierbei betrifft die erste Betrachtung das Gegenständliche. Ist dieses ästhetisch gleichgültig und kommt es nur auf die Auffassung und Behandlung an, so versteht es sich von selbst, daß Alles und Jedes, selbst das, was wir gemeinhin gerade als «unästhetisch» zu bezeichnen pflegen, künstlerisch dargestellt werden kann, daß es im Stofflichen für den Künstler keine Grenzen zwischen Schicklichem und Unschicklichem giebt. «Die Wertung des Stofflichen», so las ich neulich, «hat mit dem Ästhetischen nichts zu thun.» Man staunt, wenn man sieht, daß solche Thesen eines bis ins Äußerste verstiegenen Formalismus als allgemein gültige von einem nicht unbeträchtlichen Theile der kunstliebenden Gesellschaft begrüßt werden können. Ich muß nun wirklich sagen: etwas Verwirrenderes als diese Behauptung kenne ich nicht. Was ist denn Kunst? Zunächst allgemein als Thätigkeit betrachtet? Sie ist, sei es nun in Farben oder in Stein oder in Tönen oder in Worten Gestaltung von etwas. Was ist aber dieses Etwas! Es ist eben das, was wir als Gegenständliches, als Stoff des Kunstwerks bezeichnen. Dieses Gegenständliche ist verschiedenster Art und hat einen verschiedenen bestimmten Gefühlsgehalt, eine bestimmte Gefühlsbedeutung. Das Gegenständliche nach
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)