In Berlin wohnte Günther bei seinem Oheim, dem alten Grafen Eberhardt von Tarniff. Der Greis war ganz vereinsamt, dazu halb gelähmt. In einem Rollstuhl ließ er sich in den Zimmern und Korridoren seines Hauses in der Wilhelmstraße umherfahren, oder er saß am Fenster und schaute hämisch und unzufrieden auf die Straße hinab. Er hatte das Leben genossen. „Was an Pläsier zu haben war, nahm ich mit,“ pflegte er zu sagen. Jetzt war die Welt langweilig. Die Jungen waren Duckmäuser und taten nichts, worüber die Alten einmal lachen konnten. „Na, der Günther,“ meinte er, „der stellt noch hin und wieder was an, über das es sich zu reden lohnt.“
Jetzt war Günther der Gast seines Oheims, nachdem er für zwei Monate verschwunden gewesen war. Man wollte ihn in Cannes, in Biarritz mit der schönen Frau Cibò-Berkow gesehen haben. Allerhand Gerüchte über ihn und Mareile beschäftigten die Berliner Gesellschaft sehr stark.
Mareile nahm eine Wohnung in der Bülowstraße. Ihre vornehmen Verbindungen hatte sie vergessen, als wären sie nie dagewesen. Sie wollte jetzt nur ihrer Kunst und ihrer Liebe leben. Eine frische, friedliche Luft sollte sie umwehen. Nichts von der schwülen Luxusatmosphäre der Damen, die außerhalb der Gesellschaft stehen. Günther, ja, auf den war ihr Leben jetzt gebaut. Ihn behalten, war ihre Aufgabe, denn sonst hatte alles, was sie getan und gewagt, keinen Sinn. Und sie verstand zu halten, was ihr gehörte, mit dem zähen Eigentumsgefühl der Bauern, ihrer Vorfahren.
Eduard von Keyserling: Beate und Mareile. S. Fischer, Berlin [1903], Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keyserling_Beate_und_Mareile.djvu/127&oldid=- (Version vom 1.8.2018)