145 (9.) Bei ihren Gerichten gehen sie mit peinlichster Genauigkeit und ganz unparteiisch vor, und es darf das Richtercollegium nicht weniger als hundert Mitglieder haben. Dafür ist aber auch die einmal gefällte Entscheidung unabänderlich. Nächst Gott ist bei ihnen der Name des Gesetzgebers der Gegenstand der größten Verehrung, so dass jeder, der gegen diesen eine Lästerung ausstößt, mit dem Tode bestraft wird. 146 Den älteren Leuten, wie auch der Mehrheit sich zu fügen, halten sie für eine Forderung des Anstandes: sitzen z. B. zehn beisammen, so würde es wohl keiner wagen, das Wort zu ergreifen, wenn es den übrigen neun nicht recht wäre. 147 Sie nehmen sich inacht, dass sie nicht mitten unter anderen oder nach rechts hin ausspucken, und sie zeichnen sich auch vor allen Juden durch die Genauigkeit aus, mit welcher sie die sabbathliche Arbeitsruhe beobachten. Denn nicht bloß, dass sie sich die Speisen einen Tag zuvor schon herrichten, um ja kein Feuer an diesem Tage anmachen zu müssen, unterstehen sie sich nicht einmal ein Gefäß am Sabbath zu verrücken oder auch nur beiseite zu gehen. 148 An den Werktagen graben sie sich mit ihrem Spaten, d. h. jenem Grabewerkzeug, das man den Neueingetretenen einhändigt, und das eben die Form eines Spatens hat, eine fußtiefe Grube, die sie mit ihrem Oberkleide von allen Seiten am Rande bedecken, um nicht das himmliche Licht zu entweihen, benützen sie dann als Abtritt 149 und schütten die aufgeworfene Erde wieder in die Grube hinein. Sie wählen dazu überdies die abgelegensten Orte, und obgleich die Ausscheidung des leiblichen Unrathes doch wohl etwas ganz natürliches ist, pflegen sie sich nachher auch noch abzuwaschen, gerade so, als ob sie eine gesetzliche Verunreinigung erlitten hätten.
150 (10.) Je nachdem sie längere oder kürzere Zeit bei dieser Lebensweise zugebracht haben, scheiden sie sich wieder in vier Classen, von denen die später eingetretenen so tief unter den früher aufgenommenen stehen, dass, wenn sie die letzteren zufällig berühren, diese sich abwaschen müssen, wie wenn sie sich durch Berührung mit einem Heiden befleckt hätten. 151 Sie leben in der Regel lange, die meisten gelangen zu einem Alter von mehr als hundert Jahren und zwar, wie ich glaube, gerade infolge ihrer einfachen Lebensweise und strengen Sitte. Indes setzen sie sich auch über die drohendsten Lebensgefahren hinaus und trotzen in ihrer Seelengröße allen Peinen, ja sie würden einen Tod, der in ruhmvoller Gestalt an sie herantritt, selbst einem unsterblichen Leben vorziehen. 152 Hat ja gerade der Krieg mit den Römern in jeder Beziehung ihren Seelenadel aufs glänzendste dargethan, da sie hier von den Folterschrauben gestreckt und gewunden, ihre Glieder
Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/163&oldid=- (Version vom 17.8.2016)