„Wie schade. Leben Sie wohl!“ Herr Gerhard schüttelte dem Bey die Hand, sah ihm noch ein Weilchen nach und wendete sich dann lächelnd zu Herrn Hellmund: „Sehen Sie, das ist komisch; aber es ist eigentlich dieselbe Erscheinung, von der wir sprachen.“
„Welche Erscheinung?“ sagte Herr Hellmund.
„Dieser Bey hat ebensowenig Lust zum Erforschen dunkler Welttheile, wie die Hunde ihres Nachbars zum Singen. Wenn er seine Ruhe hätte, wäre er vermuthlich ein ebensolcher guter Bourgeois wie Sie.“
Herr Hellmund wußte nicht gleich, wie er das nehmen sollte. Er murmelte nur: „Nun und so?“
„So ärgert ihn seine Frau zum Hause hinaus – was, übers Meer! Die Wissenschaft verdankt dieser Frau viel. Ja, die Ursachen unserer Leistungen sind zuweilen komisch. Und öfter sind sie traurig. Ihr guten Bourgeois habt nicht die leiseste Ahnung, worauf die Lieder beruhen, die Euch entzücken, und die Thaten, die Ihr bewundert. Ihr hört, aber versteht nicht den Gesang, der aus den Leiden kommt. Freilich muß auch die Seele danach sein, die, wenn sie recht sehr zerknittert und mißhandelt wird, sich in reinen und hohen Ausbrüchen Luft macht. Dafür ist mir die arme kleine Sarah Holzmann ein schönes Beispiel.“
„Ach ja, Herr Gerhard, Sie wollten mir die Geschichte dieses Kindes erzählen.“
„Was ich davon weiß, kann ich Ihnen sagen. Es ist eine eigenthümliche, halbwüchsige Tragödie. Ich lernte Sarah vor drei Jahren kennen, hier. Damals sprach sie noch mit mir. Sie haben vielleicht heute Nachmittags bemerkt, daß sie meinen Gruß nicht annimmt.“
„Ich hielt es für Ungezogenheit. Warum sollte ein
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/50&oldid=- (Version vom 1.8.2018)