stumpfen ab, die tägliche Gewohnheit macht kalt und starr, der viele Anblick des Sterbens, das sich dann rein als Naturprozeß des Auslöschens darstellt, bringt die Menschen nicht dem Ernst des Todes näher, sondern vielmehr näher dem brutalen Recht des Lebens. Gerade durch die in unseren Tagen so betonte Veräußerlichung der Krankenpflege, die nicht mehr den Menschen in der Krankheit, sondern die Krankheit im Menschen ansieht, wird so leicht ein brutales Recht und eine brutale Beanspruchung des Lebensrechts hervorgerufen, denn unser sind die Stunden und die Lebenden haben recht; und nicht einmal die ganz einfache, ich möchte sagen rohe Erwägung, daß einmal, eine Stunde kommen wird, wo man uns mit den Ellenbogen abschiebt, wo andere sich an unsere Stelle drängen und drücken, hat noch den erziehlichen Wert der Vorsichtnahme. Man läßt sich gehen, weil man noch gehen kann. Soll das auf die Dauer so weiter währen? Soll die christliche, die weibliche Seele so von dieser Massenarbeit an den Kranken, die ihr dann nicht mehr teuer erlöste christliche Mitbrüder, sondern lediglich Objekte der ärztlichen Kunst sind, leiden, sollen noch weiter solche Ausschreitungen vorkommen, soll man aufhören, der Seele zu gedenken? Das ist eine sehr ernste Frage, eine Frage, über die man sich jetzt noch nicht genug Rechnung und Rechenschaft gegeben hat. Aber man wird es sehen, daß wenn man nicht bald hier eingreift, in unsere Häuser eine – verzeihe man mir das Wort – stupende Gewalt von innerer Roheit hereinströmt. Ungestraft kann der Mensch nicht die allerhöchsten Pflichten jahraus jahrein verletzen, und ich kenne keine höhere Pflicht als daß ich zu meinem Bruder sage: Bruder, gedenke an deine Seele. Wenn nun ein Mutterhaus merkt, daß unter seinen Füßen der Boden glimmt und daß, während es auf festem Grunde zu stehen scheint, weil seine Ordnungen noch tragen, bereits alles anhebt zu brennen, soll es dann nicht die brennenden Balken aus seinem Gefüge herausreißen und lieber eine ganze Menge von sogenanntem Einfluß verlieren und verlassen, als daß es untauglich und untüchtig würde, die große Seelenpflege weiter zu tun?
Ich habe mit Absicht die Gegensätze recht scharf markiert. Es kann sein, daß sie noch einige Jahre länger ausbleiben als ich fürchte und glaube, aber einmal wird man es sehen, daß die Diakonie zu einer Entscheidung gedrängt wird, und wie oft haben wir Gott schon angerufen, er wolle uns eine schwere Entscheidung ersparen und auf diese Weise mit uns handeln, daß sich die Dinge von selbst lösen. Aber das tut Gott nicht, Er ist ein Gott der Armen, aber nicht ein Helfer der Bequemen. Und darum wird auch der Kampf einmal ausgekostet
Hermann von Bezzel: Einsegnungs-Unterricht 1909. , Neuendettelsau 1910, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Einsegnungs-Unterricht_1909.pdf/98&oldid=- (Version vom 1.8.2018)