ein einziger himmelanstrebender, weil aus der tiefsten Not der Unbesinnlichkeit geborner Ruf: „Herr, hilf mir.“ Das ist ja das Wesen alles religiösen Lebens, daß es nicht mehr auf sich, sondern daß es auf ein anderes Leben außer ihm sich zurückbezieht, das da mächtig und groß genug ist, alles Leben in seine Hand zu nehmen und alles Leben zu verklären. Wir haben die Fragen an unsern Herrn immer wieder zu stellen und an diesen beiden einfachen Fragen unser ganzes Leben zu orientieren: „Woher komme ich und wohin gehe ich?“ Es ist ein unermeßner Abgrund von Geheimnis und Heimlichkeiten und Wunderrätseln, die Er dazu gemacht, daß sie in unserm Leben die einzelnen Glaubensartikel und Glaubenswahrheiten bilden: woher wir gekommen sind. Ob ich im Blick auf meinen Leib sage: Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat, oder ob ich im Blick auf meine Seele bekenne: Ich glaube, daß Jesus Christus mich erlöst hat, oder ob ich in Hinsicht auf meine Lebensentwicklung das zugestehe: der heilige Geist hat mich gerufen – immer sind dies die Geheimnisse des dreieinigen Gottes um eine Menschenseele, die Wahrheiten, die im Lauf eines Lebens erfahren und erlebt werden müssen. Das ohnehin so schwere, rätselvolle, wechselreiche Leben würde zu einer unerträglichen Last werden, zu einer Unsumme von Fragezeichen, auf die Antwort zu geben niemand Lust trägt, zu einem solchen Schreckbild von Möglichkeiten, wenn wir nicht immer wieder unser ganzes Dasein auf ein Wort einstellen könnten, und dieses Wort heißt Gott und ich. Man wird im Lauf des Lebens müde, von Zwischenursachen viel zu reden, weil man merkt, daß man auf Zwischen- und Mittelursachen sich so viel einläßt, daß die Hauptursache zurücktritt und schwindet. Man hat es allmählich satt, von all dem zu reden, was im Leben an scheinbaren Aeußerlichkeiten, an Wendungen, Verwicklungen, Aenderungen sich zugetragen hat, und versucht das Rätsel zu lösen, indem man glaubt. Denn Glaube ist nichts andres, als das Rätsel seines Lebens dem befehlen, der es geschürzt und gegeben hat, und die Fragen in seinem Leben dem befehlen, der sie aufgeworfen und erweckt hat. Glauben heißt nichts andres, als vom Sichtbaren los und ledig werden und den Grund seines Ich in der geheimnisvollen Gottesmacht suchen. Es hat mir niemand beweisen können noch bewiesen, von wem ich herkomme; es hat niemand den ersten Grund meines Daseins mir aufgezeigt. Eben darum, weil einerseits das Geheimnis mich ängstet, andrerseits ich doch das Geheimnis wissen muß, wenn ich nicht gedankenlos hindämmern soll, nehme ich die Kraft und wähle mir die Macht, mit der ich alles, was
Hermann von Bezzel: Einsegnungs-Unterricht 1909. , Neuendettelsau 1910, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Einsegnungs-Unterricht_1909.pdf/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)