Er ganz genau durchforscht hat, was wir können und vermögen, und nachdem Er dort eine Gabe, hier eine Gefahr, dort ein Sehnen zu Ihm, hier einen Weg von Ihm genau erschaute und erfaßte, ein großes, unbestimmtes, leitendes und herrliches Ziel uns gegeben; und dieses Ziel ist in Vorherbegrenzung und Vorherbestimmung. Er hat dem Strom der Sünde einen Damm gezogen, und der Menge der Trauer einen Trost verordnet und der großen Aufgabe die rechte Gabe zugerüstet und der rechten Gabe die rechte Pflicht zur Seite gestellt. Er hat mich berufen, ich bin Sein Berufener und das bin ich zunächst mit allen Menschen.
Ich bin ein Berufener mit allen Menschen. Sage nicht, was hat dieser Mensch für eine Aufgabe und was hat jener für ein Geschäft; frage nicht, wozu ist dieser Mensch auf der Welt und wozu ist jener bestimmt, sondern schließe dich in die große Menge aller derer ein, die da berufen sind. Gott hat dich berufen, nicht als wenn aus einem Quell, ohne daß ers wüßte und aufzuhalten vermöchte, eine Wasserader um die andre entquillt, nicht als wenn der Regen wahllos fällt und Felsen streift und befeuchtet; du bist nicht kraft eines von Ihm einmal begonnenen, dann nicht mehr gehinderten und schließlich aus Seiner Hand geglittenen Naturprozesses aus Ihm hervorgegangen, sondern Er hat dich berufen, dich ganz einzeln, gerade so wie du bist. Er hat sich an dich mit Seinem Wort gewendet und dieses Wort bist du dann selbst geworden. Er hat einen Gedanken auf dich gerichtet, ehe du warst, und da du wurdest, warst du dieser Gedanke. Das muß einen Menschen aufs allertiefste erfassen: ich bin nicht in diese Welt hineingeglitten und gesunken, durch eine Naturnotwendigkeit hereingefallen, sondern ob ichs gleich nicht wert bin, von Ihm genannt zu werden, vielmehr es wohl verdiente, daß Er meinen Namen aus Seinem Gedächtnis auslöschte und meinen Tag von Seinem Buche tilgte, hat Er mich gerufen. Nicht leise hat Ers gesagt, nicht im Schweigen wie ein Geheimnis, dessen Er sich halb zögernd schämt, sondern mit der Gewißheit, daß Er etwas Großes getan, und mit der Ihm innewohnenden Sicherheit, daß Er eine Tat vollbracht, hat er mich gerufen. Es soll die ganze Welt wissen, daß weil ich bin und wie ich bin, ich ein Wort Seines Rufes bin. Es würde, so sage ich mir täglich, eine Lücke in Seinem Weltenplan und ein Ausfall in Seiner Gedankenwelt, ein Mangel in seinem Ganzen sein, wenn ich nicht da wäre, und ob ich gleich ein Sandkorn in dem großen, großen Gebäude der Ewigkeit bin, und um ein Sandkorn ärmer sein, heißt eben doch ärmer sein. Das müßte uns, Geliebte, aufrichten: Gott hat mich in Ewigkeit gerufen,
Hermann von Bezzel: Einsegnungs-Unterricht 1909. , Neuendettelsau 1910, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Einsegnungs-Unterricht_1909.pdf/12&oldid=- (Version vom 1.8.2018)