moderne Mensch gebildet erscheint; daß er nicht den Vorwurf der Rückständigkeit verschulde, stets mit den neuesten Entdeckungen und Erfindungen einer wild wachsenden Theologie vertraut sei, ist erforderlich. Nach hundert Jahren wird man aus den Erzeugnissen des jetzigen Kirchtums viel Geist und Geistesblüten, aber wenig gesundes Bibelleben ersehen. Und doch werden die andringenden Fluten des Abfalls nicht von den neuen Schutzwehren abgehalten, sondern allein von dem Worte Gottes, das ewig bleibt.
In diese hastende, tastende, neue Wege und Weisen suchende und darüber ermattete Kirche ruft ihr Herr: Das ist der Weg, denselbigen wandelt sonst weder zur Rechten noch zur Linken. Und die in der Kirche Wächter und Hüter, Kirchenbeamte im Vollsinn des Wortes, Diener und Hirten sind, hören aus ihren Amtsgängen, in ihren Amtsstuben, bei ihren Maßnahmen den Heiligen rufen: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele.
Man lasse das Wort eines Mannes, der an etlichen hundert Sterbebetten gestanden ist, etwas gelten. Wo der Pfarrer Gelegenheit hat, und wenn er sie sucht, erbietet sie sich ihm bald, an Sterbebetten zu treten, da nehme er dieser schola interna. mit heiligem Eifer wahr. Hier zerfallen die Systeme der Meister und die Kirchenbaupläne und die Gesinnungsgemeinschaften zerstieben, auch kennt man hier nimmer Religionsgeschichte und Textkritik, sondern nur die eine Bitte: erhalte mein Herz jetzt bei dem Einigen, daß ich deinen Namen fürchte. Wie ärmlich und jämmerlich, so daß man ihrer sich schämt, kommen und fallen alle großen Gedanken vor dem Einen: Ins Licht – und vor dein Angesicht. Die Frömmigkeit wird ja nicht gelernt, sondern geübt. Aber an Sterbebetten ist es doch wie ein Klugwerden, das verachtet und verläßt, was groß dünkt, um zu bewahren, was groß ist.
Wo aber die Eitelkeit der Sterblichkeit ungeschminkt und ungeschmückt vor die Seele tritt, der Sterblichkeit in allem Menschenwerk, wo über Gräber von Kirchenmännern und Ruinen von Kirchengedanken der Wind wie spielend weht, Namen und Titel, Weisheit und Kirchenpolitik entführt, daß ihrer so wenig geworden sind, da steigt aus der Tiefe des gemeinsamen Schweigens langsam und deutlich, schreckhaft zutage, weil ein Zeugnis von der Gewalt der Sünde und des göttlichen Widerspruchs, dann immer trostreicher, in seiner armen Gestalt reich machend das Kreuz empor, dieses signum ac testimonium sanctitatis „Zeichen und Zeugnis der Heiligkeit“.
Hermann von Bezzel: Die Heiligkeit Gottes. Dörffling & Franke, Leipzig 1916, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Heiligkeit_Gottes.pdf/23&oldid=- (Version vom 9.9.2016)