Diverse: Handbuch der Politik – Band 2 | |
|
80 Millionen sein. Seit geraumer Zeit vermehren wir uns jährlich um 800/900 000 Menschen. Auf einen qkm kamen im Anfänge des 19. Jahrhunderts 45, heute 120 Einwohner. Wie ist es möglich gewesen, diese gewaltige Bevölkerung innerhalb unserer Grenzen mit Arbeit und Nahrung zu versorgen? Einzig und allein durch unsere industrielle Entwicklung. Ein Ackerbaustaat muss seine Bevölkerung immer den Nahrungsmitteln anpassen, die er auf eigenem Boden gewinnt. Die Produktivität eines gegebenen Stück Landes ist selbst durch den grössten Kapital- und Arbeitsaufwand nicht beliebig vermehrbar, sondern an bestimmte Grenzen gebunden (Gesetz des abnehmenden Bodenertrages). Da nun aber die Bevölkerung immer die Tendenz hat, sich über diesen Spielraum hinaus zu vermehren, so müssen Ventile geschaffen werden. Eines dieser Ventile öffnet sich regelmässig von selbst; es ist das „Gesetz des natürlichen Regulativs“: Hungersnöte und Epidemien sorgen dafür, dass die Bevölkerung immer wieder auf den ihr von der Natur gegebenen Nahrungsspielraum zurückgedrängt wird. Das andere Ventil ist die Auswanderung. Wie es schon in der Bibel von Abraham und Lott heisst: „Und das Land mochte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten, denn ihre Habe war gross und konnten nicht beieinander wohnen“. Das grosse Wandern der Menschheit, das wir seit Jahrtausenden sehen, und das schliesslich zur Besiedlung der Erde geführt hat: es ist die Folge davon, dass ein Stück Land in seiner Ertragsfähigkeit nicht beliebig gesteigert werden kann. Auch in Deutschland reden die Auswandererziffern eine ernste Sprache. In den Jahren 1821–90 wunderten allein nach den Vereinigten Staaten annähernd 5 Millionen Deutsche aus. Unsere Auswandererziffer erreichte zeitweise eine stattliche Höhe. Im Jahre 1880 verloren wir durch Auswanderung 117 000, im Jahre 1881 220 000 Landsleute, gleich 5% der damaligen Bevölkerung.
Die industrielle Entwicklung hat diese enorme Auswanderung zum Stillstand gebracht. Unser Wanderungsverlust im Jahre 1910 belief sich auf 25 500 Menschen (0,7‰). Die Einwanderung war in derselben Zeit grösser, wenngleich es nicht die besten Elemente sind, die aus dem slavischen Osten zu uns herüberkommen. Immerhin ändert dies nichts an der Tatsache, dass wir heute ein Einwanderungsland sind.
Weshalb hängt dies mit der industriellen Entwicklung zusammen? Einfach deshalb, weil die Stoffverarbeitung auf demselben Boden mehr Menschen ernähren kann als die Urproduktion; unter zwei Voraussetzungen: 1. müssen über die im Inlande produzierten Rohstoffe hinaus solche aus dem Auslande bezogen werden können; 2. muss für die produzierten Güter Absatz vorhanden sein. Unter diesen beiden Voraussetzungen lässt sich die industrielle Tätigkeit beliebig steigern. Und in dem Masse, als dies geschieht, wird im Inlande Arbeitsgelegenheit geschaffen und damit die Möglichkeit, den Bevölkerungszuwachs im Lande zu behalten.
Bevor dies näher erörtert wird, soll kurz die Frage aufgeworfen werden, ob es für Deutschland überhaupt erwünscht ist, innerhalb seiner Grenzen eine so grosse Bevölkerung zu haben. Neuerdings macht sich auch bei uns Propaganda für den Neumalthusianismus geltend, der sich letzten Endes die Aufgabe stellt, auf eine Beschränkung der Kinderzahl hinzuwirken. Solches Beginnen erscheint mir vom deutschen Standpunkt als frevelhaft. Zur Begründung nur eines: Deutschland gilt heute mit Recht als ein Staat, der sich wirtschaftlich ungewöhnlich günstiger geographischer Lage erfreut. Im Herzen Europas liegend, fast überall auf Landgrenzen stossend, aber doch des Zugangs zum Meere nicht entratend, wird Deutschland bei zunehmendem internationalen Verkehr immer mehr Durchgangsgebiet für die Beziehungen der Völker Europas, wovon es selbstverständlich profitiert. Es sei nur hingewiesen auf den grossen Verkehr Westeuropas, vornehmlich Englands, via Sibirien und Ostasien, der noch intensiver werden wird, wenn wir erst die Bahnen nach Indien und dem Persischen Golf haben. Dieser Durchgangsverkehr hat unsere Volkswirtschaft mittelbar und unmittelbar sehr erhebliche Werte zugeführt. Anderseits brauchen wir nur einen Blick auf unsere Geschichte zu werfen, um zu erkennen, dass diese unsere exponierte Lage von jeher mit grossen Gefahren verbunden gewesen ist, indem wir unter dem Mangel ausreichender Grenzwacht zeitweise schwer gelitten haben und überdies unser Boden im Laufe der Jahrhunderte oftmals den Tummelplatz für die Kämpfe anderer Völker hat abgeben müssen. Diese Gefahr ist heute eher grösser als kleiner geworden und wenn wir uns trotzdem behauptet haben, so verdanken wir dies unserer politisch-militärischen Macht, die ihrerseits aber mit abhängig
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/270&oldid=- (Version vom 25.9.2021)