Jeden Morgen beim Erscheinen unseres direkten Hüters war meine erste Frage: „Ist der Untersuchungsrichter noch nicht zurück?“ Aber Tage um Tage und Wochen um Wochen verrannen und der sehnlichst Erwartete erschien nicht auf der Bildfläche.
Endlich an einem Sonntagmorgen in der fünften Woche wurde meine Frage bejaht. Auf meine weitere Frage, ob ich gemeldet sei, erklärte dieser Untergewaltige ganz trocken, er melde mich nicht.
Nun war bei mir Feuer im Dach, daß ich ihn nicht am Kragen nahm war alles. Einen gewaltigen Krach schlug ich ihm, so daß der Gang widerhallte und er schleunigst die Türe von außen zumachte.
Nach seinem Weggang sagte ich zu meinem Leidensgenossen: „Nun passen Sie auf, nun wirds lustig. Wenn ich morgen früh, spätestens bis 9 Uhr nicht vorgeführt bin, nehme ich diesen Stuhl und gehe gegen die Türe los und wenn der Stuhl kaput geht, nehme ich den nächsten, überhaupt was hier ist, immer gegen die Türe, ich will doch sehen, ob ich hier rechtlos bin.“ Der arme Teufel fing an zu weinen und zu jammern, während ich im Käfig in ohnmächtiger Wut hin und her rannte und am liebsten gleich auf die Türe losgegangen wäre. Und wieder sah ich die verdammten Mucken wie 1878 vor meinen Augen.
Nur sehr schwer beruhigte ich mich nach und nach und bekam erst mein seelisches Gleichgewicht wieder, als nachmittags um 2 Uhr unsere Türe zur Hälfte geöffnet wurde und unser Cerberus erschien, der mir auf meine sofortige Frage: „Warum melden Sie mich nicht?“ nun die beruhigende Antwort gab: „Ich melde Sie“.
Gustav Kittler: Aus dem dritten württemb. Reichstags-Wahlkreis. Im Selbstverlag des Verfassers, Heilbronn 1910, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gustav_Kittler_Erinnerungen_1910.pdf/75&oldid=- (Version vom 1.8.2018)