Das gleiche sei auch gegen die angezogene vielgerühmte Barmherzigkeit zu sagen. Bei der übergroßen Anzahl der Christen bestehe sie darin, um nur ein Beispiel anzuführen, daß diejenigen Abhängigen, die es wagen, gegen die heute herrschenden Zustände anzukämpfen, eine Aenderung, Besserung verlangen, unbarmherzig auf das Pflaster geworfen und samt ihren Familien dem langsamen Verhungern preisgegeben werden.
Der Satz „Liebet Euch untereinander“, wie werde der praktisch betätigt? Wenn man nur an die menschenmordenden Kriege denkt, die die allerchristlichsten Nationen miteinander führen, müsse man schon die Frage entschieden verneinen. Soll das vielleicht die christliche Duldsamkeit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe sein? Dann bedanken wir uns für die ganze Christlichkeit. Und, hat man je gehört, oder hört man je, daß die Prediger der Nächstenliebe, im Namen der Christlichkeit, vor Ausbruch oder während der Dauer eines solchen unheilvollen Krieges, gegen denselben von der Kanzel donnern, protestieren. Im Gegenteil, sie beten hüben und drüben zu dem lieben Gott, um den Sieg ihrer Waffen. Was soll nun der liebe Gott in einem solchen Fall tun, welchem von beiden Teilen soll er recht geben?
Aufgabe der Kirche sei es nicht, sich mit Politik zu befassen. Wir sind der Meinung, daß die Kirche schon lange zu einer politischen Einrichtung geworden, daß sie zu einem politischen Instrument der herrschenden Klassen herabgewürdigt wurde. Daß hohe und niedere Geistliche längst Politik treiben, daß dieselben, soweit sie ein Reichs- oder Landtagsmandat besitzen, immer auf der
Gustav Kittler: Aus dem dritten württemb. Reichstags-Wahlkreis. Im Selbstverlag des Verfassers, Heilbronn 1910, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gustav_Kittler_Erinnerungen_1910.pdf/113&oldid=- (Version vom 1.8.2018)