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Seite:Geschichten von lieben Nachbarn.pdf/3

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Walther Kabel: Geschichten von „lieben Nachbarn“. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 6, S. 236–239

ein Streit zwischen zwei reichen, infolge allerhand Zänkereien bis aufs Blut verfeindeten benachbarten Villenbesitzern ausgefochten. Nachdem der eine alles mögliche umsonst versucht hatte, um dem anderen sein Besitztum zu verleiden, schenkte er das seinige der Stadt zu dem Zweck, dort ein Asyl für Obdachlose einzurichten. Dies geschah, und das Asyl der ganzen Gegend gab sich von nun an dort ein Stelldichein, wodurch dem lieben Nachbar natürlich sehr bald der fernere Aufenthalt in seinem eleganten Heim unmöglich gemacht wurde. Auch gegenüber dieser „Menschenfreundlichkeit“ war das Gericht machtlos.

Viel von sich reden machte seinerzeit der Fall Crocker. Dieser, ein bekannter Milliardär in San Franzisko, hatte zu seinem ursprünglichen Villengrundstück allmählich die benachbarten Besitzungen zur Erweiterung seines Parkes angekauft. Nur ein Sonderling, dessen kleines Häuschen nebst bescheidenem Gärtchen schon längst von dem Crockerschen Park vollständig eingeschlossen war und nur einen schmalen Zugangsweg nach der nächsten Straße besaß, weigerte sich hartnäckig, seinen Besitz an den Milliardär zu verkaufen. Eines Tages erschien nun ein Heer von Arbeitern und begann auf der Grenze zwischen den beiden Grundstücken eine Mauer aufzuführen, die von Tag zu Tag mit beängstigender Schnelligkeit wuchs, bis sie die stattliche Höhe von fünfzehn Meter erreicht hatte. Sie war so breit, daß man oben auf ihrem Mauerkranz bequem spazieren gehen konnte. Der arme Sonderling, der den Milliarden Crockers zu trotzen gewagt hatte, lebte fortan auf seinem Grundstück wie in einer riesigen Falle. Er sah um sich nichts als die roten Backsteine und über sich nur noch ein Stückchen Himmel. Der Milliardär sorgte jedoch noch weiter für die Gemütsruhe seines lieben Nachbars. Er öffnete täglich für ein paar Stunden seinen Park dem Publikum, und die Leute kamen natürlich in hellen Scharen und ergingen sich besonders gern auf der längst berühmt gewordenen Mauer, von der aus sie so bequem das Heim des inzwischen vor Ingrimm halb krank gewordenen Mannes bewundern konnten.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Geschichten von „lieben Nachbarn“. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 6, S. 236–239. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1913, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichten_von_lieben_Nachbarn.pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)