„Abscheuliche Berechnung eines Weibes!“ dachte Raymon. Dann sagte er mit schmeichelndem väterlichen Tone:
„Du überschätzest die Wichtigkeit deines Schrittes. Nein, liebe Freundin, einer Unbedachtsamkeit wegen ist noch nicht alles verloren. Ich werde dafür sorgen, daß meine Dienerschaft reinen Mund hält…“
„Und etwa auch die meinige, die in diesem Augenblick wahrscheinlich mich ängstlich sucht? Und mein Gatte? Denkst du, er werde mich morgen wieder bei sich aufnehmen wollen, nachdem ich eine Nacht unter deinem Dache zugebracht habe? Könntest du mir wirklich raten, zu ihm zurückzukehren und ihn fußfällig zu bitten, mich als Zeichen seiner Gnade noch einmal an die Kette zu schmieden, unter deren Last bereits meine Jugend verwelkte und mein Leben hinschmachtete? Könntest du ohne Gewissensbisse eine Frau diesem Schicksal preisgeben, die sich unter deinen Schutz flüchtet, um dir für ein ganzes Leben anzugehören?“
Raymon dachte auf ein Mittel, sich von dieser lästigen Treue zu befreien oder einen Vorteil daraus zu ziehen.
„Du hast recht, Indiana,“ rief er mit Feuer, „du gibst mich mir selbst wieder. Verzeihe meiner kindischen Sorge und bedenke, daß nur meine Liebe zu dir sie mir eingegeben hat. Verzeihe, daß ich an etwas anderes denken konnte, als an das unaussprechbare Glück, dich zu besitzen. Laß mich alle Gefahren vergessen, die uns bedrohen, laß mich in dieser Stunde ganz in dem Glücke schwelgen, daß ich dir zu Füßen liege und dich besitze. Mag doch dein Gatte kommen und dich meinen Armen entreißen wollen, dich, mein Glück, mein Leben. Von jetzt an gehörst du ihm nicht mehr, du bist meine Freundin, meine Geliebte, meine Gebieterin.“
Raymon verschwendete nun alle Lockungen einer glühenden Beredsamkeit. Er war wirklich hinreißend in seiner Sprache. Er redete sich in eine Leidenschaft hinein, um sich selbst zu betrügen. Und das verblendete, leichtgläubige Weib hörte mit Entzücken auf diese
George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/112&oldid=- (Version vom 1.8.2018)