Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3 | |
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Häßliche Sittenbilder aus den hohen Gesellschaftskreisen sind in den letzten Jahren in den Sälen entrollt worden, in denen Frau Justitia mit Wage und Schwert ihres Amtes waltet. Die Prozesse der Damen Steinheil und Borowska in Paris, des Grafen Pfeil in Thorn, der Frau v. Schönebeck in Allenstein und nicht zuletzt der Prozeß, der im Frühjahr 1910 vor dem Schwurgericht der herrlichen Lagunenstadt geführt wurde, enthüllten einen solchen Abgrund von sittlicher Verworfenheit der hohen Gesellschaftskreise, daß man sich mit Betrübnis eingestehen muß, wir sind trotz unseres fortgeschrittenen Zeitalters von wahrer Kultur noch weit entfernt. Man darf nicht vergessen: es handelt sich hierbei um die Kreise, die auf den Höhen der Menschheit wandeln, die sich anmaßen, über Ausschreitungen in den niederen Volkskreisen sich zu entrüsten und die – ich habe speziell das Milieu der Gräfin Tarnowska im Auge – die Pogrome und die Judenverfolgungen überhaupt, sowie die gewaltsame Unterdrückung aller Freiheitsbestrebungen in Rußland aus angeblichen sittlichen Gründen unterstützen und fördern. Die erwähnten Prozesse haben bewiesen, daß in gewissen Kreisen der sogenannten hohen Gesellschaft eine Fäulnis herrscht, vor der sich der gesittete Mensch mit Ekel und Abscheu abwenden muß. Leider ist der Chronist, zu dessen Aufgabe es gehört, Zeitgeschichte zu schreiben, trotz allen Widerwillens, nicht in der Lage, stillschweigend an derartigen Zeitereignissen vorüberzugehen. Der Prozeß
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/9&oldid=- (Version vom 20.12.2022)