Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3 | |
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gegen die Gräfin Tarnowska und ihre Werkzeuge, der im Frühjahr 1910 fast volle drei Monate das Schwurgericht in Venedig beschäftigte, bietet ganz besonders für den Psychologen das größte Interesse. Wohl noch niemals hatte sich vor den Schranken eines Gerichtshofes ein Weib zu verantworten, ein Weib der höchsten Gesellschaftskreise, dessen Wiege in einem feenhaften Schlosse gestanden, das in üppigstem Luxus und Wohlhabenheit erzogen, dessen Taten aber so entsetzlich waren, daß sich Tinte und Feder sträuben, sie niederzuschreiben. Der ergrauteste Kriminalist hat wohl kaum jemals in eine so schwarze Seele gesehen. Spielte sie doch mit Menschenleben geradezu Fangeball, nur um ihrer Laune Befriedigung zu verschaffen. Keine Spur von Reue war, selbst während der dramatischsten Szenen im Gerichtssaal, in den Gesichtszügen dieses weiblichen Wesens zu entdecken, dessen geradezu entzückende Schönheit fast das Tribunal ins Wanken gebracht hätte. Im Laufe der langen Verhandlung äußerte plötzlich ein Geschworener: Sein Gewissen zwinge ihn, sich selbst für befangen zu erklären. Er könne nicht ferner seines Richteramtes mit der Unparteilichkeit walten, die er eidlich gelobt habe, denn er habe sich in die Angeklagte – sterblich verliebt. Der Gerichtshof sah sich infolgedessen genötigt – ein wohl noch niemals dagewesener Fall – den verliebten Geschworenen von seinem Richteramte zu entbinden und einen Ersatzgeschworenen zu ersuchen, in die Reihe der ordentlichen Geschworenen einzutreten. Die Hauptangeklagte, deren Schönheit und Anmut geradezu bezaubernd wirkte, war am 16. Juni 1877 als Tochter des russischen Adelsmarschalls, Grafen O. Rusk in der Nähe von Kiew im väterlichen Schlosse geboren. Sie genoß selbstverständlich die sorgfältigste Erziehung. Kaum 15 Jahre alt, kam sie in ein feines Pensionat, in das nur Töchter des russischen Hochadels aufgenommen werden. Als sie 16 Lenze zählte, war sie eine blendende Schönheit. Ein junger Kosakenoffizier,
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/10&oldid=- (Version vom 20.12.2022)