Staatsanwalt Pult am zweiten Tage nach einer zwölfstündigen Verhandlung eine Nachtsitzung, weil er einen Pfingstausflug unternehmen wolle. Der Gerichtshof lehnte den Antrag ab. Und es wurde weiter verhandelt.
Ich könnte noch viele Vorgänge ähnlicher Art aufzählen. Zeigt nicht aber schon das bisher Mitgetheilte die Nothwendigkeit gründlichen Wandels? In den überfüllten Gerichtssälen ist die Luft meist geradezu unerträglich; schon deshalb dürften die Verhandlungen nicht zu lange dauern. Als ich im Dezember 1884 nach Leipzig kam, um mir eine Eintrittskarte zu dem Prozeß wider Reinsdorff und Genossen zu verschaffen, fragte ich den Senatspräsidenten Drenckmann, der den Vereinigten Strafsenaten des Reichsgerichts vorsitzen sollte, wie viele Tage die Verhandlung wohl dauern werde. Er antwortete: „Das kann ich heute selbst noch nicht wissen. Der Vorsitzende, der vor einer so umfangreichen und wichtigen Sache genaue Zeitbestimmungen giebt, verkennt seine Aufgabe.“ Würde sich bei Gerichtsverhandlungen, insbesondere bei großen Prozessen nicht die „englische Geschäftszeit“ empfehlen? Eine lange Mittagspause ist meiner Meinung nach nicht nützlich. Die Prozeßbetheiligten sind nach der Mittagspause geistig meist nicht mehr so frisch wie vor dem Essen. Plenus venter non studet libenter: Das merkt man auch in Gerichtssälen. Man sollte, wie es bei einigen Gerichten (besonders beim Reichsgericht) geschieht, von neun Uhr vormittags mit einer höchstens halbstündigen Pause bis vier Uhr nachmittags verhandeln. Nur dann wird es möglich sein, die Verhandlung mit der nöthigen Sorgfalt zu führen.
Der Verfasser dieses Artikels ist seit vierzig Jahren Gerichtsberichterstatter und in den alten und neuen Sälen des berliner Kriminalgerichtes neben seinem Kollegen Oskar Thiele die bekannteste Gestalt. Vor ein paar Wochen hat Herr Friedlaender, unter dem Titel „Kulturhistorische Kriminalprozesse der letzten vierzig Jahre“ (im Verlag Kontinent) einen Band veröffentlicht, in dem die berühmtesten Prozesse dieses Zeitabschnittes kurz, doch klar dargestellt sind. Die Serie reicht von dem Päderastenprozeß Zastrow, über Hödel, Tisza-Eszlar, den chemnitzer Sozialistenprozeß hinweg, bis zu der auf den Namen Heinze getauften Tragikomoedie. Die Sammlung wird fortgesetzt.
In der bekannten prunkvollen Liebhaber-Zeitschrift „Pan“ fand ich im Doppelheft Dezember-Januar 1896 einen reich illustrirten Aufsatz von Peter Jessen über Ex libris. In besonders feiner Ausstattung sind in ganzseitigem Druck auf Kunstblättern zwei Ex libris beigegeben: das des Freiherrn von Wendelstadt auf Neubeuern und das des Grafen Philipp zu Eulenburg. Wendelstadts Buchzeichen versinnbildet eine verwickelte Burganlage mit dem Wappenspruch Nobis et amicis. Das Ex libris des Eulenburgers stellt im Hauptbild einen weichgelockten griechischen Knaben dar mit schüchtern mädchenhaftem Ausdruck: der Mund ist knospenhaft, die Augen sind groß, erwartungvoll, fast ängstlich fragend. Das Gesicht ist voll dem Beschauer zugewendet. Zum Schmuck des Haares ist ein zartes Lorberreis eingeflochten. Auf der rechten Brustseite ist Raum für das eulenburgische Wappen ausgespart, auf der linken Seite steht ein griechisch stilisirter Rollenbehälter. Das Ganze in seiner feinen Umrißmanier auf rosa getöntem Grund ist süß und kitschig wie die Etiquette einer Chokoladeschachtel, doch jetzt recht interessant.
Hugo Friedländer: Der Normalarbeitstag der Justiz. Verlag der Zukunft, Berlin 1908, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Der_Normalarbeitstag_der_Justiz.djvu/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)