geistige Spannkraft besitzen, um mit Sorgfalt Recht sprechen zu können. Noch weniger können es die Geschworenen. Nun erwäge man, daß Geschworenen- und Strafkammerurtheile nur durch Revision angefochten werden können und daß „thatsächliche Feststellungen“ sich der Nachprüfung des Revisiongerichtes entziehen. Ich habe im Oktober 1883 dem neustettiner Synagogenbrandprozeß, der vor dem Schwurgericht in Köslin verhandelt wurde, als Berichterstatter beigewohnt. Fünf Juden waren beschuldigt, ihre Synagoge in Brand gesteckt zu haben, um die Versicherungprämie zu erhalten und ein schöneres Gotteshaus erbauen zu können und (Das stand ausdrücklich in der Anklage und wurde auch vom Vorsitzenden in der Urtheilsbegründung hervorgehoben) um das Verbrechen den Christen in die Schuhe zu schieben. In dieser wichtigen Sache wurde von neun Uhr vormittags mit einer einstündigen Pause bis lange nach Mitternacht verhandelt. Am zweiten Verhandlungtag bat, eine halbe Stunde vor Mitternacht, der berliner Vertheidiger Dr. Sello, die Verhandlung abzubrechen, da er geistig und physisch erschöpft sei. „Wir können jetzt die Verhandlung noch nicht unterbrechen“, erwiderte der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Burow; „in dieser Schwurgerichtsperiode sind noch so viele Sachen zu erledigen, daß, wenn wir schon um halb Zwölf abends die Verhandlung schließen, wir unser Pensum nicht absolviren können.“ Also wurde weiter verhandelt: bis zwei Uhr nachts. Am dritten Verhandlungtag hatte sich der Vorsitzende, ein vierschrötiger Hinterpommer, vorgenommen, bis zum folgenden Morgen zu verhandeln. Gegen halb zwei Uhr nachts vernahm man im Gerichtssaal lautes Schnarchen. Einige Geschworene waren vor Müdigkeit eingeschlafen. Das störte aber den Vorsitzenden nicht, von dem ein berliner Journalist schrieb: „Der Mann hat entweder überhaupt keine Nerven oder solche von der Stärke eines Schiffstaues oder einer Ankerkette.“ Die Verhandlung wurde fortgesetzt, als ob es sich um gut bezahlte Akkordarbeit handelte. Gegen Zwei trat ein Geschworener mit schneeweißem Bart und Haupthaar vor den Richtertisch und sagte: „Herr Vorsitzender, ich muß Sie dringend bitten, die Verhandlung jetzt abzubrechen. Wir sitzen hier mit geringer Unterbrechung seit neun Uhr früh. Die jüngeren Herren beschweren sich schon und ich bin ein alter Mann.“ „Dann wollen wir eine kleine Pause machen“, sprach der Vorsitzende; „abbrechen können wir die Verhandlung noch nicht.“ Eine Pause von fünfzehn Minuten trat ein; dann wurde bis vier Uhr morgens verhandelt. Das Ergebniß dieser denkwürdigen Verhandlung, in der die Angeklagten unter dem Hepp! Hepp! des Straßenpöbels zu schweren Strafen verurtheilt wurden, war, daß das Urtheil vom Reichsgericht eines prozessualen Verstoßes wegen aufgehoben und an das Landgericht zu Konitz verwiesen wurde, wo nach nochmaliger siebentägiger Verhandlung Freisprechung erfolgte. Im November 1886 waren vor dem Schwurgericht zu Kottbus acht Leute des Landfriedensbruchs angeklagt. Am letzten Tage hatte die Verhandlung von neun Uhr vormittags, mit einstündiger Pause, bis halb acht Uhr abends gedauert. Die Beweisaufnahme war beendet und die Plaidoyers sollten beginnen. Die Vertheidiger und die Geschworenen baten um Vertagung. Der Gerichtshof lehnte sie ab, „da die Sache bis zwölf Uhr nachts erledigt werden könne“. Die Geschworenen konnten aber erst gegen halb drei Uhr nachts die Berathung anfangen. Um sechs Uhr morgens war die Verhandlung zu Ende gediehen. Im aachener Alexianerprozeß, der vom dreißigsten Mai bis zum achten Juni 1895 vor der aachener Strafkammer durchgeführt wurde, beantragte
Hugo Friedländer: Der Normalarbeitstag der Justiz. Verlag der Zukunft, Berlin 1908, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Der_Normalarbeitstag_der_Justiz.djvu/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)