sie vielleicht an ihrem früheren Wohnorte gar nicht einmal die topographische Lage der nächsten Kirche genau gekannt haben. Aber die Schwäche des Geschlechts giebt den Antrieb zu grösserer äusserlichen Bemerkbarkeit und zu mehr Extravaganzen. Die zur Clique gehörende Professorenfrau fühlt nicht nur selbst, dass sie Mitglied der tonangebenden Gesellschaft sei, sondern sie will es auch überall die andern fühlen lassen. Man soll es ihrem öffentlichen Auftreten und ihren Plätzen in Concerten, Vorträgen und im Theater sofort anmerken, dass man zur herrschenden Gesellschaft gehört. Man kommt mit Vorliebe zu spät in Aufführungen dieser Art, geht sofort nach vorne, sieht sich siegesgewiss um, bis ein strebsamer Docent oder ein Abendbrod verdienender Zuhörer mit Aufbietung aller Thatkraft einen Stuhl herbeischleppt und vor die erste Reihe hinstellt, weil vielleicht nicht einmal diese für die Würde der verehrten Gebieterin als ausreichend angesehen wird. In den Pausen dreht man sich siegestrunken um und beginnt eine Unterhaltung mit Damen der fünften und sechsten Reihe, welche von dem halben Saal gehört wird, wobei die dazwischen sitzenden Personen als Luft angesehen zu werden pflegen. In einer kleinen Universitätsstadt provocirte einmal eine solche Heldin einen grossen Scandal, indem sie eine bescheidenere Professorsfrau, welche nicht zur Clique gehörte, aus der ersten Reihe verwies und von einigen herbeispringenden männlichen Cliquenhelden
Hans Flach: Der deutsche Professor der Gegenwart. Leipzig 1886, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Flach_Der_deutsche_Professor.djvu/136&oldid=- (Version vom 18.8.2016)