Magdalene (gleich darauf, mit einem Aufschrei): Wolfgang! Ich sehe dein Gesicht!
Wolfgang (aufspringend): Was siehst du?
Magdalene: Dein Gesicht – im Spiegel – wie ich es alle diese Tage gesehen habe – alle diese Wochen – wenn du mir Liebe beteuertest – in deiner Stimme habe ich dein Gesicht gesehen (mit wildem Jammer) Wolfgang, Wolfgang, du liebst mich nicht mehr!
Wolfgang (sinkt kraftlos, wie von einer furchtbaren Anstrengung erschöpft, in den Stuhl.)
Magdalene (vor ihm knieend): Ach diese Verzweiflung, diese unsäglich müde Verzweiflung in deinen Zügen!
Wolfgang (eifrig): Ja ja – – müde, nicht wahr? Müde – – – Ich bin das Lügen noch nicht ganz gewohnt – es ist angreifend.
Magdalene (mit starren Blicken ihn erforschend): Wolfgang – also wirklich – wirklich: Du liebst mich nicht mehr?
Wolfgang (sanft, mit tiefem Mitleid den Kopf schüttelnd): Nein. –
Magdalene (schnell): Aber das kann ich nicht fassen, Wolf – das ist ja nicht möglich – dann bin ich ja ganz verlassen – (noch schneller) Sieh, ich will dir ja alles Liebe thun – du weißt ja nicht, wie ich dich liebe – ich will dir eine bessere Gefährtin sein – als ich gewesen bin – ich fühle und denke ja ganz so wie du – ich war ja so verblendet, so verwirrt – (immer eindringlicher) Sieh Wolf, was du glaubst, das glaube ich auch – ich weiß es ja: es ist alles so schön und so wahr und so richtig, was du denkst –
Otto Ernst: Die größte Sünde. Conrad Kloss, Hamburg 1895, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ernst_Die_groesste_Suende.djvu/118&oldid=- (Version vom 31.7.2018)