Emilia. Nichts, nichts –
Claudia. Und blickest so wild um dich? Und zitterst an jedem Gliede?
Emilia. Was hab’ ich hören müssen? Und wo, wo hab’ ich es hören müssen?
Claudia. Ich habe dich in der Kirche geglaubt –
Emilia. Eben da! Was ist dem Laster Kirch’ und Altar? – Ach, meine Mutter! (sich ihr in die Arme werfend)
Claudia. Rede, meine Tochter! – Mach’ meiner Furcht ein Ende. – Was kann dir da, an heiliger Stäte, so schlimmes begegnet seyn?
Emilia. Nie hätte meine Andacht inniger, brünstiger seyn sollen, als heute: nie ist sie weniger gewesen, was sie seyn sollte.
Claudia. Wir sind Menschen, Emilia. Die Gabe zu beten ist nicht immer in unserer Gewalt. Dem Himmel ist beten wollen, auch beten.
Emilia. Und sündigen wollen, auch sündigen.
Claudia. Das hat meine Emilia nicht wollen!
Emilia. Nein, meine Mutter; so tief ließ mich die Gnade nicht sinken. – Aber daß fremdes
Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Christian Friedrich Voß, Berlin 1772, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Emilia_Galotti_(Lessing_1772).djvu/44&oldid=- (Version vom 31.7.2018)