Odoardo. Wenn ich dir ihn nun gebe – da! (giebt ihr ihn.)
Emilia. Und da! (im Begriffe sich damit zu durchstoßen, reißt der Vater ihr ihn wieder aus der Hand.)
Odoardo. Sieh, wie rasch! – Nein, das ist nicht für deine Hand.
Emilia. Es ist wahr, mit einer Haarnadel soll ich – (sie fährt mit der Hand nach dem Haare, eine zu suchen, und bekommt die Rose zu fassen.) Du noch hier? – Herunter mit dir! Du gehörest nicht in das Haar Einer – wie mein Vater will, daß ich werden soll!
Odoardo. O, meine Tochter! –
Emilia. O, mein Vater, wenn ich Sie erriethe! – Doch nein; das wollen Sie auch nicht. Warum zauderten Sie sonst? – (in einem bittern Tone, während daß sie die Rose zerpflückt) Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweyten das Leben gab. Aber alle solche Thaten sind von ehedem! Solcher Väter giebt es keinen mehr!
Odoardo. Doch, meine Tochter, doch! (indem er sie durchsticht.) – Gott, was hab’ ich gethan! (sie will sinken, und er faßt sie in seine Arme.)
Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Christian Friedrich Voß, Berlin 1772, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Emilia_Galotti_(Lessing_1772).djvu/150&oldid=- (Version vom 31.7.2018)