Marinelli. Nicht auf Ihren Brief –
Orsina. Den er ja erhalten, sagen Sie –
Marinelli. Erhalten, aber nicht gelesen.
Orsina. (heftig) Nicht gelesen? – (minder heftig) Nicht gelesen? – (wehmüthig, und eine Thräne aus dem Auge wischend) Nicht einmal gelesen?
Marinelli. Aus Zerstreuung, weiß ich, – Nicht aus Verachtung.
Orsina. (stolz) Verachtung? – Wer denkt daran? – Wem brauchen Sie das zu sagen? – Sie sind ein unverschämter Tröster, Marinelli! – Verachtung! Verachtung! Mich verachtet man auch! mich! – (gelinder, bis zum Tone der Schwermuth) Freylich liebt er mich nicht mehr. Das ist ausgemacht. Und an die Stelle der Liebe trat in seiner Seele etwas anders. Das ist natürlich. Aber warum denn eben Verachtung? Es braucht ja nur Gleichgültigkeit zu seyn. Nicht wahr, Marinelli?
Marinelli. Allerdings, allerdings.
Orsina. (hönisch) Allerdings? – O des weisen Mannes, den man sagen lassen kann, was man will! – Gleichgültigkeit! Gleichgültigkeit
Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Christian Friedrich Voß, Berlin 1772, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Emilia_Galotti_(Lessing_1772).djvu/104&oldid=- (Version vom 31.7.2018)