Walther Kabel: Eitel bis zum letzten Augenblick. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 9, S. 208–211 | |
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Schließlich fand die Orleille aber doch einen Ausweg. Sie bestach die Aufseherin ihrer Zelle und ließ sich die so sehnlichst begehrten Schminken heimlich beschaffen. Am Tage der Urteilsvollstreckung betrat sie dann mit sanft geröteten Wangen, frisch und blühend wie ein junges, unschuldiges Mädchen, das Blutgerüst. Die lauten Pfuirufe aus der Menge steigerten sich beim Anblick dieses herausgeputzten, dem Henker verfallenen Kopfes zu einem nicht endenwollenden Wutgebrüll. Die anwesenden Gerichtsbeamten befahlen hierauf den Henkersknechten, der Delinquentin das Gesicht zu waschen. Dieses geschah unter dem lauten Beifallsgeschrei der Menge in nicht gerade allzu zarter Weise, während Henriette Orleille wie eine Wahnsinnige vor Wut kreischte und sich wehrte. Wenige Minuten später rollte ihr Haupt auf die Bretter des Schafotts. Ein Bild der Giftmörderin, gemalt von Hernot im Jahre 1790, befindet sich noch heute unter dem Namen „Die Dame mit den Madonnenaugen“ in einer Münchener Galerie.
Auch Napoleon III. pflegte sich, was wenig bekannt sein dürfte, regelmäßig zu schminken. Er konnte den charakteristischen blassen Teint, der allen Bonapartes eigen war, nicht leiden, ganz im Gegensatz zu Napoleon I., der geradezu eine Vorliebe für bleiche, scharfgeschnittene Gesichter hatte. Aber niemals ließ Napoleon III. einen Kammerdiener das Geschäft des Schminkens besorgen. Vielmehr suchte er es stets ängstlich zu verbergen, daß er der Farbe seiner Haut künstlich nachgeholfen hatte. Selbst am Morgen nach der Schlacht bei Sedan, als der unglückliche Kaiser sich zu dem Zusammentreffen mit König Wilhelm I. in Donchery rüstete, vergaß er nicht, seinem durch die Aufregungen der letzten Wochen völlig verfallenen und durchsichtig weißen Antlitz durch rote Schminke ein frisches Aussehen zu verleihen. „Es war ein unwürdiger Anblick,“ schreibt der Franzose Lestrelle in seinen Kriegserinnerungen, „diese geschminkte, zusammengesunkene Puppe im Wagen sitzen zu sehen, unwürdig eines Mannes, der wußte, daß er seine Rolle als Kaiser ausgespielt hatte.“
Walther Kabel: Eitel bis zum letzten Augenblick. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 9, S. 208–211. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1911, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eitel_bis_zum_letzten_Augenblick.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)